Projekt Gutenberg

Textsuche bei Gutenberg-DE:
Startseite    Genres    Neue Texte    Alle Autoren    Alle Werke    Lesetips    Shop    Information    Impressum
Autoren A-Z: A | B | C | D | E | F | G | H | I | J | K | L | M | N | O | P | Q | R | S | T | U | V | W | X | Y | Z | Alle
Gutenberg > Émile Gaboriau >

Der Strick um den Hals

Émile Gaboriau: Der Strick um den Hals - Kapitel 14
Quellenangabe
pfad/gaboriau/strick/strick.xml
typefiction
authorEmile Gaboriau
titleDer Strick um den Hals
publisherFischer Taschenbuch Verlag
year1984
isbn3596281210
firstpub1873
translatorEduard Hallberger
correctorreuters@abc.de
secondcorrectorgerd.bouillon@t-online.de
senderwww.gaga.net
created20120528
projectid9be55b36
Schließen

Navigation:

13

Das Pferd des Herrn Sénéchal war vielleicht das beste des Bezirks, aber es wurde von dem des Herrn von Chandoré noch übertreffen.

In weniger als fünfzig Minuten waren die dreizehn Kilometer zurückgelegt, die Sauveterre von Boiscoran trennen; fünfzig Minuten, während welcher Herr von Chandoré und Herr Folgat nicht fünfzig Worte miteinander wechselten. Als sie ankamen, war der Schloßhof von Boiscoran leer und totenstill. Türen und Fenster waren fest verschlossen. Auf den Stufen der Vorhalle saß ein junger Bauer von kräftiger Gestalt, der sich bei der Annäherung der Stadtleute erhob und die Hand an seine wollene Mütze legte.

»Wo ist Antoine?« fragte Herr von Chandoré.

»Er ist oben, Herr Baron.«

Der alte Freiherr versuchte die Tür zu öffnen; sie war verschlossen.

»Ja, gnädiger Herr, Antoine hat sich von innen verschanzt«, sagte der Bauer.

»Eine sonderbare Idee!« rief Herr von Chandoré, indem er mit der Spitze seines Stockes an die Tür klopfte.

Er klopfte immer heftiger, bis endlich von innen Antoines Stimme »Wer da?« rief.

»Sapperment, ich bin es! Der Baron von Chandoré!«

Geräuschvoll wurden die Riegel zurückgeschoben, und der alte Kammerdiener trat heraus. Er sah totenbleich und verstört aus. An der Unordnung seines Bartes, seiner Haare und seiner Kleider sah man, daß er die Nacht verbracht hatte, ohne sich niederzulegen. Und diese Unordnung hatte viel zu bedeuten bei einem Manne, der seinen Ehrgeiz darein setzte, immer in der tadellosen Haltung eines englischen Gentleman zu erscheinen.

Darum war auch Herr von Chandoré durch sein Aussehen so überrascht, daß er sich vor allem anderen mit der Frage: »Was hast du, mein braver Antoine?« an den Alten wandte.

»Ich habe«, antwortete er in unheimlichem Ton, »ich habe . . . Furcht hab' ich!«

Der alte Herr und der Anwalt sahen sich an.

»Dieser Unglückliche«, dachten sie, »hat den Verstand verloren.«

Aber Antoine verstand sie und sagte hastig: »Nein, ich bin nicht wahnsinnig, obgleich hier Dinge vorgehen, daß man sich wirklich fragen muß, ob man noch im Besitz seiner vollen Vernunft ist. Wenn ich Furcht habe, so ist es nicht ohne Gründe.«

»Zweifeln Sie etwa an Ihrem Herrn?« fragte Herr Folgat.

Der ehrliche Diener warf dem fremden Ausforscher einen so drohenden Blick zu, daß Herr von Chandoré hastig einfiel:

»Mein lieber Antoine, dieser Herr ist ein uns ergebener Freund, ein Anwalt, der mit Frau von Boiscoran aus Paris kam, um deinen Herrn zu verteidigen. Du darfst ihm also nicht mißtrauen, sondern mußt ihm alles sagen, was du weißt, alles ohne Rücksicht, selbst wenn –«

Das Gesicht des würdigen Dieners klärte sich auf.

»Ach, der Herr ist Anwalt!« rief er. »Seien Sie willkommen, mein Herr! Ich werde endlich alles aussprechen können, was ich auf dem Herzen habe . . . Nein, fürwahr, ich glaube nicht, daß Herr von Boiscoran schuldig ist – es ist unmöglich – es wäre Wahnsinn, nur anzunehmen, daß er es sein könnte. Aber was ich glaube, wovon ich überzeugt bin, ist, daß ein Komplott gegen ihn geschmiedet ist, um ihm die Greuel von Valpinson aufzubürden.«

»Ein Komplott gegen ihn geschmiedet«, unterbrach Herr Folgat, »durch wen? Wie? Zu welchem Zweck?«

»Ach, das weiß ich freilich nicht. Aber ich täusche mich nicht, und Sie würden denken wie ich, wenn Sie dem Verhör beigewohnt hätten. Es war entsetzlich, meine Herren, es war so unerhört, daß ich wie geblendet selbst einen Augenblick nahe daran war, an meinem Herrn zu zweifeln, daß ich ihm riet, zu fliehen. – Nein, so etwas ist noch nicht dagewesen. Alles war gegen ihn. Jedes Wort, jede Antwort, die er gab, klang wie ein Eingeständnis. In Valpinson war ein Verbrechen begangen – man hatte ihn hingehen und auf versteckten Wegen zurückkehren sehen. Es war Feuer angelegt worden, und das Wasser, in dem er sich die Hände gewaschen, war schwarz von Ruß. Man hatte zwei Flintenschüsse abgefeuert – eine seiner Patronenhülsen fand sich in der Nähe des Ortes, wo Herr von Claudieuse verwundet wurde. Und das eben ist's, woran ich das Komplott erkannt habe. Hätten alle Verdachtsmomente so genau zusammengestimmt, wenn sie nicht vorher berechnet und angeordnet gewesen wären? . . . Der arme Herr Daubigeon hatte die Augen voll Tränen, selbst Méchinet, der Aktuar, der sich sonst in alles einmischt, war ergriffen. Nur Galpin-Daveline, dieser Elende, hatte ein selbstzufriedenes Aussehen, denn er war der Untersuchungsrichter. Ein Mann, der zu jeder Zeit hier erschien, der unser Brot aß, in unseren Betten schlief, der unser Wild jagte! Er rutschte förmlich auf den Knien vor dem Herrn, damals, als er die Hand des Fräuleins von Lavarande zu erhalten hoffte.«

Großvater Chandoré verriet steigende Ungeduld.

»Nun gut«, rief er, als Antoine innehielt, um Atem zu schöpfen, »warum bist du denn aber nicht gekommen, um mir das alles früher mitzuteilen?«

Der alte Diener zuckte demütig mit den Achseln.

»Wenn ich es gekonnt hätte!« antwortete er. »Nachdem das Verhör beendet war, hat dieser Galpin überall Siegel angelegt, mit Lack befestigte Leinwandstreifen, wie man sie auf den Sekretär eines Verstorbenen klebt. Er hat jede Ritze und Klappe verklebt. An der äußeren Tür hat er deren nicht weniger als drei angebracht. Dann hat er mir gesagt, daß er mich zum Wächter einsetze, daß ich dafür eine Entschädigung erhalten würde, aber daß die Galeere mich erwarte, wenn irgend jemand die Siegel auch nur mit der Spitze seines Fingers berühre. Dann ist dieser Galpin, nachdem er meinen Herrn dem Gendarmen überliefert, davongefahren und hat mich hier allein gelassen, betäubt wie ich war, denn ich glich einem Menschen, dem man mit einem Hammer auf den Kopf geschlagen . . . Dennoch hätte ich Sie, Herr Baron, aufgesucht, wäre mir nicht ein Gedanke gekommen, der mich schaudern machte.«

Großvater Chandoré stampfte mit dem Fuß auf den Boden.

»Zur Sache!« rief er, »zur Sache!«

»Hören Sie! Sie müssen nämlich wissen, meine Herren, daß während des Verhörs sehr viel von dem Gewehr die Rede war, das der Herr am Abend der Feuersbrunst mit sich genommen hätte. Der Galpin untersuchte diese Flinte und fragte den Herrn, wann er sie zuletzt abgefeuert habe. Der Herr antwortete, es wäre fünf Tage her . . . Hören Sie wohl? Ich sage fünf Tage! Darauf hat Galpin die Flinte beiseite gestellt, ohne die Läufe zu untersuchen.«

»Nun – und?« fragte Herr Folgat.

»Nun – und – ich, mein Herr – ich, Antoine, hatte am Vorabend, sage am Vorabend des vergangenen Tages das Gewehr des Herrn von Grund aus geputzt und gereinigt.«

»Sapperment!« rief Herr von Chandoré, »warum hast du das nicht gleich gesagt, Antoine? . . . Wenn die Läufe rein waren, so war das ein unwiderleglicher Beweis für Jacques' Unschuld.«

Der alte Diener schüttelte den Kopf.

»Das ist wahr«, sagte er, »aber sind die Läufe rein?«

»Wie meinst du?«

»Der Herr konnte sich über die Angabe des Zeitpunktes geirrt haben, an welchem er den letzten Schuß getan, dann wären die Läufe vielleicht doch unrein gewesen, und statt ihn zu retten, würde meine Aussage zu seinem sichern Verderben beigetragen haben . . . Bevor man eine Aussage wagt, muß man seiner Sache gewiß sein.«

»Ja«, bestätigte Herr Folgat, »und Sie haben recht getan zu schweigen, mein braver Alter, und ich kann Sie nicht genug warnen, gegen irgend jemand ein Wort über diesen Umstand fallenzulassen, der ein entscheidendes Argument der Verteidigung werden kann.«

»Oh, ich werde zu schweigen wissen, mein Herr, aber Sie werden begreifen, wie mich diese verdammten Siegel in Wut gesetzt haben, die mich verhinderten, den Zustand der Flinte zu untersuchen. Ach, hätte ich's nur gewagt, sie zu nehmen!«

»Unglücklicher!«

»Ich hatte allerdings den Gedanken, doch ich habe ihn bezwungen. Aber später ist es mir eingefallen, daß dieser Gedanke auch anderen aufsteigen konnte. Die Schurken, die das fluchwürdige Komplott gegen Herrn von Boiscoran ersonnen, sind zu allem fähig – nicht wahr? Warum sollten sie nicht in der Nacht kommen, die Siegel aufzubrechen? . . . Ich habe den Meier als Wächter unter die Fenster in den Garten gesetzt, seinen Sohn als Schildwache in den Hof, und ich habe selbst Schildwache vor den Siegeln gehalten.«

Man mag von den Anwälten sagen, was man will – die Anwälte sind besser als ihr Ruf.

Der erste, der bei der Aufführung eines höchst düsteren Dramas eine Träne vergißt, ist immer ein Dramaturg, ein Mann von Fach, der alle die Leitfäden kennt, für den die Kulissen kein Geheimnis mehr sind.

Der Anwalt, der so oft der Ungläubigkeit angeklagt wird, ist im höchsten Grade des Wortes leichtgläubig und naiv. Aus aufrichtiger Überzeugung ereifert er sich, und wenn man glaubt, daß er Komödie spielt, handelt er im besten Glauben.

Und meistenteils hat er in seinem Geiste den verhaßten Prozeß gewonnen, den er vor den Richtern verliert.

Herr Folgat hatte sich seit seiner Ankunft in Sauveterre allmählich mehr und mehr von Jacques von Boiscorans Unschuld überzeugt, und die Erzählung des alten Antoine war nicht darnach angetan, seinen Glauben zu erschüttern.

Nicht etwa, daß er das Bestehen eines Komplotts annahm; aber er war nicht abgeneigt, an die dreiste Berechnung irgendeines Schurken zu glauben, der glückliche Zufälle benützte, um die Last seines Verbrechens auf Jacques von Boiscorans Schulter zu bürden.

Doch Herr Folgat hatte noch andere Aufklärungen nötig, und es war schwer, sie dem fieberhaft aufgeregten alten Antoine abzugewinnen. Denn einen Mann verhören, wenn er noch so bereit ist zum Sprechen, ist nicht leicht. Und wenn man zu dieser Aufgabe nicht sehr große Kaltblütigkeit, sehr viel Sorgfalt und ein sehr folgerichtiges Verfahren anwendet, läuft man Gefahr, die wichtigsten Tatsachen zur Seite liegen zu lassen.

»Mein braver Antoine«, begann Herr Folgat nach einigen Augenblicken von neuem, »ich kann Ihr Verhalten in dieser Angelegenheit nicht genug rühmen . . . Wir sind noch lange nicht zu Ende . . . Aber da ich seit gestern, bevor ich Paris verließ, nichts wieder zu mir genommen habe, und es bereits zwölf Uhr mittags ist –«

Herr von Chandoré schlug sich gegen die Stirn.

»Wie kopflos ich bin!« unterbrach er ihn. »Wie ist es möglich, daß ich Ihnen noch nichts angeboten habe! Aber Sie werden mich entschuldigen. Sie sehen, wie niedergeschmettert ich bin. Antoine, womit kannst du uns dienen?«

»Die Pächterin hat Eier, eingemachte Gänse und Schinken . . .«

»Was sich am schnellsten herstellen läßt, wird das Beste sein«, sagte der junge Anwalt.

»In weniger als zwanzig Minuten werden die Herren bei Tische sein!« rief der alte Diener.

Mit diesen Worten eilte er davon, während Herr von Chandoré den Anwalt in den Saal führte. Mit dem äußersten Aufwande seiner Willenskraft suchte Großvater Chandoré seine zuversichtliche Haltung zu bewahren.

»Dieser Umstand mit der Flinte ist seine Rettung, nicht wahr?« fragte er.

»Vielleicht«, antwortete Herr Folgat, worauf beide in Stillschweigen verfielen, der Baron vertieft in den Kummer seines Lieblings und den Tag verwünschend, an welchem er sein Haus dem Herrn von Boiscoran und mit ihm so vielen grausamen Sorgen geöffnet hatte, während der Anwalt seinem Geiste die eingezogenen Erkundigungen einprägte und die Fragen überlegte, die er noch zu stellen hatte.

Jeder von ihnen war so in seine Betrachtungen verloren, daß sie zusammenfuhren, als Antoine mit den Worten: »Das Essen ist bereit«, wieder erschien.

Der Tisch war in dem Speisesaal gedeckt, und während die beiden Gäste Platz nahmen, hielt Antoine sich, die Serviette unter dem Arm, ehrerbietig im Hintergrunde, doch Herr von Chandoré wendete sich mit den Worten zu ihm: »Bringe noch ein drittes Gedeck, Antoine, und frühstücke mit uns.«

»Oh – gnädiger Herr«, protestierte der Diener.

»Setz dich nur her«, beharrte Herr von Chandoré. »Es wäre Zeitverlust, wenn du erst nach uns essen würdest, und ein Diener wie du ist Mitglied der Familie.«

Antoine gehorchte, obgleich verlegen und rot bis an die Haare vor Vergnügen über die Ehre, die ihm zuteil wurde, denn für gewöhnlich pflegte Vertraulichkeit gegen Untergeordnete nicht die Schwäche des Barons von Chandoré zu sein.

»Jetzt«, begann Herr Folgat nach dem Essen, »nehmen wir unser Geschäft wieder auf. Und Sie, mein lieber Antoine, nehmen sich Zeit zum Besinnen. Denken Sie daran, daß, wenn keine Aufhebung der Anklage und Haft erfolgt, Ihre Antworten die Grundlagen meiner Verteidigung mitbilden werden. Sagen Sie mir nun, welcher Art pflegten Herr von Boiscorans Lebensgewohnheiten hier zu sein?«

»Er hatte hier sozusagen keine bestimmten Gewohnheiten. Wir kamen nur selten und auf kurze Zeit hierher.«

»Gleichviel – welcher Art war das Leben, das er führte?«

»Er pflegte spät aufzustehen, viel spazierenzugehen, jagte zuweilen oder zeichnete und las, denn der gnädige Herr ist ein großer Bücherfreund; er liebt die Bücher fast ebensosehr wie sein Vater, der Marquis, sein Porzellan . . .«

»Wen empfing er bei sich?«

»Herrn Galpin-Daveline am häufigsten, den Doktor Seignebos, den Pfarrer von Bréchy, dann Herrn Sénéchal, Herrn Daubigeon.«

»Wie pflegte er seine Abende zuzubringen?«

»Bei dem hier anwesenden Herrn Baron von Chandoré, der es Ihnen bestätigen kann.«

»Er hatte keine anderen gesellschaftlichen Beziehungen in der Umgegend?«

»Nein.«

»Er besaß Ihres Wissens keine gute Freundin?«

»Oh!« antwortete Antoine verlegen, »so wissen Sie nicht, daß mein Herr mit dem Fräulein von Chandoré verlobt ist?«

Der Baron von Chandoré war nicht »von gestern«, wie er zu sagen pflegte. Wie mächtig auch sein Interesse in dieser Sache war, er erhob sich. »Ich werde ein wenig Luft schöpfen«, sagte er. Damit ging er hinaus, wohl begreifend, daß seine Eigenschaft als Großvater des Fräuleins von Chandoré vielleicht die Wahrheit auf Antoines Zunge bannen könne.

»Das ist ein Mann von Verstand«, dachte Herr Folgat, dann sich zu Antoine wendend, fügte er laut hinzu: »Da wir jetzt allein sind, so lassen Sie uns, mein braver Antoine, ohne Umschweife sprechen . . . Hatte Herr von Boiscoran wirklich keine – Sie verstehen mich wohl! – keine Geliebte hier herum?«

»Nein, Herr!«

»Auch nie eine gehabt?«

»Nie. Man wird Ihnen vielleicht sagen, daß es eine Zeit gab, wo er die Fougerouse gern sah, ein starkes, rothaariges Mädchen, Tochter des Müllers, der ganz in der Nähe wohnt, und es ist wahr, daß die Kanaille bald unter diesem, bald unter jenem Vorwande öfter als nötig auf das Schloß kam . . . Aber das war eine reine Kinderei . . . Übrigens ist das fünf Jahre her, und jetzt ist die Fougerouse schon seit drei Jahren mit einem Salzsieder in der Umgegend von Marennes verheiratet.«

»Sind Sie Ihrer Sache gewiß?«

»Wie meiner selbst. Und Sie würden es ebenso sein, wenn Sie das Land kennten, wie ich es kenne, und die höllische Zunge dieser Leute. Da gibt es keine Schliche und keine Vorsichtsmaßregeln. Ich möchte den Mann kennen, der hier dreimal mit einem Frauenzimmer spricht, ohne daß es alle Welt weiß. Von Paris freilich rede ich nicht.«

Herr Folgat spitzte die Ohren.

»In Paris also hat es doch etwas dergleichen gegeben?« fragte er den Alten.

Antoine zögerte. »Die Geheimnisse meines Herrn«, stotterte er, »sind nicht die meinigen, und nach dem Versprechen, das ich ihm gegeben –«

»Von Ihrer Aufrichtigkeit hängt vielleicht die Rettung Ihres Herrn ab«, fiel der Anwalt ihm ins Wort, »seien Sie versichert, daß er es Ihnen nicht verübeln wird, alles gesagt zu haben.«

Noch einige Sekunden lang zögerte die ehrliche Haut; dann sagte er:

»Wenn es denn sein muß – gut! Der gnädige Herr hat – wie man so sagt – eine heftige Leidenschaft gehabt . . .«

»Wann?«

»Ja, das weiß ich nicht. Die Sache hatte vor meinem Eintritt in den Dienst des Herrn begonnen. Was ich weiß, ist, daß der Herr, um die . . . Person zu empfangen, in Passy, am Ende der Rue de la Vigne, mitten in einem großen Garten, ein schönes Haus gekauft hatte, das er aufs Prachtvollste ausstatten ließ.«

»Ah!«

»Es ist das selbstverständlich ein Geheimnis, das weder dem Vater noch der Mutter des Herrn bekannt ist. Wenn ich etwas weiß, so kam es daher, daß der Herr einmal, als er in diesem Hause war, von der Treppe stürzte und sich den Fuß verstauchte, worauf er mich kommen ließ, um ihn zu pflegen. Es ist wahrscheinlich, daß er es unter seinem Namen gekauft, aber er hat es nicht unter diesem bewohnt. Er gab sich dort für einen Engländer namens Burnett aus und ließ sich von einer englischen Magd bedienen.«

»Und . . . die Person . . .«

»Nicht nur, daß ich sie nicht kenne, ich ahne auch nicht einmal, wer sie gewesen sein könnte. Sie beobachtete die strengste Vorsicht. Indessen, da ich hier bin, um alles zu sagen, so gesteh' ich, daß ich die Neugier hatte, die englische Magd auszukundschaften. Sie sagte mir, daß sie selber nicht klüger sei als ich, daß sie zwar wisse, es käme eine Dame, daß es ihr aber nie gelungen sei, etwas von ihr, wäre es auch nur ihre Nasenspitze, zu sehen. Der Herr wußte die Sache so geschickt zu machen, daß die Magd immer außer dem Hause war, wenn die Dame kam und wenn sie fortfuhr. Wenn sie in dem Hause war, bedienten beide sich allein. Und wenn sie im Garten spazieren wollten, schickten sie die Magd mit einer Besorgung nach Versailles, nach Fontainebleau, gleichviel wohin, was diese, wie Sie sich denken können, in nicht geringe Wut versetzte.«

Mit einer ihm eigenen mechanischen Bewegung drehte Herr Folgat eine Spitze seines schwarzen Schnurrbarts.

Einen Augenblick hatte er geglaubt, »das Weib« auftauchen zu sehen, »das unvermeidliche Weib«, dessen Einfluß sich im innersten Grunde aller Handlungen des Mannes wiederfindet – hier aber schien sie entschieden spurlos zu verschwinden.

Vergebens suchte sein gewandter Blick nach irgendeinem möglichen, wenn nicht wahrscheinlichen Zusammenhang zwischen der geheimnisvollen Besucherin der Rue de la Vigne und den Ereignissen, deren Schauplatz Valpinson war; er entdeckte auch nicht die geringste Spur eines solchen.

»Nun, mein braver Antoine«, fuhr er ein wenig enttäuscht fort, »diese heftige Leidenschaft Ihres Herrn besteht ohne Zweifel nicht mehr?«

»Ganz offenbar, mein Herr, da Herr Jacques im Begriff war, Fräulein Denise zu heiraten.«

Diese Ursache war vielleicht nicht so einleuchtend, wie der treue Diener meinte; doch fügte der junge Anwalt keine weitere Bemerkung hinzu. »Und wann«, fuhr er fort, »hat Ihres Erachtens diese Liebschaft aufgehört?«

»Während des Krieges haben die Dame und der Herr sich trennen müssen, denn der Herr ist nicht in Paris geblieben. Er kommandierte eine Kompanie unserer Mobilgarde, wurde sogar am Kopf verwundet, was ihm eine Auszeichnung eintrug.«

»Besitzt er noch sein Haus in der Rue de la Vigne?«

»Ich glaube, ja.«

»Warum glauben Sie es?«

»Weil der gnädige Herr und ich nach all den großen Begebenheiten auf acht Tage nach Paris gingen und er mir eines Abends sagte: ›Der Krieg und die Kommune kommen mich teuer zu stehen. Mein kleines Nest drüben hat nicht weniger als zwanzig Granaten abbekommen, und es sind nacheinander Freiwillige, Kommunisten und Soldaten darin einquartiert worden. Kein Stück Möbel ist unversehrt geblieben. Mein Architekt sagt mir, daß, alles eingerechnet, die Reparaturen mehr als vierzigtausend Francs kosten werden.‹«

»Was? Die Reparaturen? Er beabsichtigte also, das Haus noch zu benützen?«

»Um diese Zeit war die Vermählung des Herrn noch nicht festgesetzt.«

»Mag sein, aber dieser Umstand weist darauf hin, daß er auch nach dem Kriege die geheimnisvolle Unbekannte wiedergesehen hat, daß also der Krieg ihre Beziehungen nicht auflöste.«

»Das ist wohl möglich!«

»Und er hat gegen Sie nie wieder die Dame erwähnt?«

»Nie.«

Hier hielt der Anwalt inne. Denn im Vorzimmer ließ sich Herr von Chandoré mit dem gekünstelten Husten eines Menschen, der sich anzukündigen wünscht, vernehmen.

Herr Folgat gab dem Herrn von Chandoré bei seinem Eintreten zu verstehen, daß seine Abwesenheit nicht mehr nötig sei. »Ich war«, sagte er ihm, »eben im Begriff, Sie aufzusuchen; denn ich befürchtete schon, es sei Ihnen irgend etwas zugestoßen.«

»Ich danke Ihnen«, erwiderte der alte Edelmann, »die Luft hat mich vollkommen erfrischt.«

Damit setzte er sich, und der junge Anwalt wandte sich wieder zu Antoine.

»Kommen wir auf Herrn von Boiscoran zurück. Wie war sein Verhalten an dem Tage vor der Feuersbrunst?«

»Ganz wie gewöhnlich, mein Herr.«

»Womit beschäftigte er sich, ehe er ausging?«

»Er hat wie immer mit gutem Appetit zu Mittag gespeist. Dann ging er hinauf in sein Zimmer, wo er über eine Stunde verweilte. Als er herunterkam, hielt er einen Brief in der Hand, den er dem Michel, dem Sohn des Pächters, einhändigte, um ihn dem Fräulein von Chandoré zu überbringen.«

»Genau so verhält es sich«, bemerkte der alte Baron. »In diesem Brief sagt Herr von Boiscoran meiner Denise, daß eine wichtige Angelegenheit ihn diesmal abhalte, zu ihr zu kommen.«

»Haben Sie eine Ahnung davon, worin diese Angelegenheit bestanden haben könnte?« fragte der Anwalt daraufhin den Diener.

»Keine, mein Herr, wie ich Ihnen versichern kann.«

»Aber es muß doch nach alledem ein Grund vorliegen, der Herrn von Boiscoran von dem Vergnügen abhielt, den Abend bei seiner Braut zuzubringen?«

»Wohl möglich.«

»Es muß seinen Zweck gehabt haben, daß er, statt die große Straße zu benützen, die überschwemmten Moräste überschritten hat und dann durch den Wald zurückgekehrt ist.«

Der alte Antoine raufte sich buchstäblich die Haare aus.

»Oh, mein Herr«, rief er aus, »Sie sagen genau dasselbe, was schon Herr Galpin-Daveline sagte!«

»Unglücklicherweise wird kein einziger vernünftiger Mensch anders sprechen können.«

»Ich weiß es, mein Herr, ich weiß es nur zu gut. Und Herr Jacques selbst fühlte das so sehr, daß er versuchte, einen Vorwand zu ersinnen. Aber er hat nie eine Unwahrheit gesagt, der Herr Jacques, er versteht sich nicht darauf, daher wußte er, der so viel Geist hat, nichts auszudenken als einen Vorwand, dessen Nichtigkeit sofort jedem in die Augen sprang. Er hat gesagt, daß er nach Bréchy ging, um seinen Holzhändler zu sprechen.«

»Und warum nicht?« rief Herr von Chandoré.

Antoine schüttelte den Kopf.

»Weil«, erwiderte er, »dieser Holzkäufer in Bréchy ein Dieb ist, den der Herr vor drei Jahren ganz öffentlich am Kragen genommen und zur Türe hinausgeworfen hat. Seitdem verkaufen wir unsern Schlag in Sauveterre.«

Herr Folgat zog ein Notizbuch hervor, um verschiedene Aussagen Antoines aufzuschreiben, wobei er die Hauptzüge seiner Verteidigung bereits entwarf.

»Jetzt«, sagte er, damit fertig, »kommen wir zu Cocoleu.«

»Ah, der Elende!« rief Antoine.

»Sie kennen ihn?«

»Wie sollt' ich ihn nicht kennen, da ich mein ganzes Leben hier, in Boiscoran, im Dienst des seligen Oheims meines Herrn zugebracht habe!«

»Dann sagen Sie mir auf das genaueste, was ist es für ein Individuum?«

»Ein Schwachsinniger, mein Herr, oder, wie man hier sagt, ein Einfältiger, der obendrein den Veitstanz hat und von epileptischen Anfällen heimgesucht ist.«

»Also ist es öffentlich anerkannt, daß er vollständig schwachsinnig ist?«

»Ja, mein Herr. Obgleich ich allerdings Leute behaupten hörte, Cocoleu sei keineswegs so vollständig ohne gesunde Sinne, wie man glaube, und er spiele sozusagen den Esel um die Kleie zu haben.«

Hier unterbrach Herr von Chandoré den Alten.

»Über diesen Gegenstand«, sagte er, »wird der Doktor Seignebos uns die beste Auskunft erteilen, da er Cocoleu während zwei Jahren bei sich beobachtet hat.«

»Ich beabsichtige auch, auf jeden Fall den Doktor zu sprechen«, antwortete Herr Folgat. »Aber vor allem gilt es, diesen unglücklichen Menschen aufzufinden.«

»Herr Sénéchal sagte bereits, daß er die Gendarmerie beauftragt habe, ihn aufzusuchen.«

»Wenn die Gendarmen Cocoleu festnehmen«, erklärte Antoine, wobei er sich einen bedeutungsvollen Gesichtsausdruck erlaubte, »so heißt das, daß er sich absichtlich hat festnehmen lassen.«

»Warum das, wenn ich bitten darf?«

»Weil niemand, meine Herren, so wie dieser Schwachsinnige alle Winkel und Schlupflöcher der Gegend kennt, die Höhlen, die Dickichte, die tiefsten Verstecke, und weil er, daran gewöhnt, wie ein wildes Tier von Früchten, Wurzeln und Vögeln zu leben, in der jetzigen Jahreszeit drei Monate verbringen kann, ohne sich einer menschlichen Wohnung zu nähern.«

»Der Teufel auch!« rief Herr Folgat enttäuscht.

»Ich kenne nur einen Menschen«, fuhr der alte Diener fort, »dem es gelingen könnte, Cocoleu aufzuspüren, das ist Michel, der Sohn unseres Pächters, der Bursche, den Sie unten gesehen haben.«

»Er soll herkommen«, sagte Herr von Chandoré.

Auf diesen Befehl zögerte Michel nicht, zu erscheinen, und sagte, als man ihm erklärt hatte, was man von ihm wolle: »Es gibt Mittel, obschon es nicht leicht geht. Wenn Cocoleu auch nicht wie ein Mensch vernünftig ist, so hat er doch die Bosheit eines Tieres . . . Wollen's aber versuchen.«

Herr von Chandoré und Herr Folgat hatten nunmehr in Boiscoran nichts mehr zu tun.

Nachdem sie dem alten Antoine anbefohlen, die Gerichtssiegel wohl zu bewachen und, wenn es möglich wäre, einen Blick auf Jacques' Gewehr zu werfen, sobald die Gerichtskommission käme, um die zum Beweise dienenden Gegenstände abzuholen, bestiegen sie ihren Wagen wieder.

Von der Kathedrale zu Sauveterre schlug es eben fünf Uhr, als sie in der Rue de la Montagne anlangten.

Im Salon harrte Fräulein Denise.

Als sie eintraten, erhob sie sich bleich, die Augen leuchtend in trockenem Glanz.

»Was – du bist allein?« rief Herr von Chandoré. »Man hat dich allein gelassen?«

»Sei nicht böse, Großvater. Ich habe soeben Frau von Boiscoran bewogen, sich vor dem Mittagessen auf eine Stunde hinzulegen; sie war ganz erschöpft.«

»Und die Tanten Lavarande?«

»Sie sind ausgegangen, Großvater. Sie müssen in diesem Augenblick bei Herrn Galpin-Daveline sein.«

»Nein!« rief Herr Folgat erschrocken.

»Aber das ist ein unsinniges Unternehmen«, rief der alte Edelmann.

Das junge Mädchen jedoch schloß ihm mit einem Wort den Mund: »Ich«, sagte sie, »hab' es gewollt.«

 << Kapitel 13  Kapitel 15 >>