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Tausend und eine Nacht. Band V

Max Henning: Tausend und eine Nacht. Band V - Kapitel 61
Quellenangabe
type
authorUnbekannte Autoren
titleTausend und eine Nacht. Band V
publisherVerlag von Philipp Reclam jun.
yearo.J.
firstpub1895
translatorMax Henning
correctorJosef Muehlgassner
senderwww.gaga.net
created20150411
projectidbbb389ae
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Zweihundertundfünfte Nacht.

Der Eunuch nahm ihn und begab sich mit ihm zur Herrin Budûr, welche ihn vom Eunuchen in Empfang nahm und ihn öffnete. Als sie nun aber ihren eigenen Siegelring darin fand und den Brief las und den Sinn desselben begriff, erkannte sie, das Kamar es-Samân ihr Geliebter war, und daß er hinter dem Vorhang stand. Da flog ihr Verstand vor Freude fort, ihre Brust dehnte sich weit und froh, und im Übermaß ihrer Seligkeit sprach sie die Verse:

»Immer bereut' ich die bittere Trennung
Und Thränen strömten von meinen Lidern.
Ich gelobte, wenn wieder die Zeit uns vereinte,
Nie sollte das Wort »Trennung« mehr über meine Lippen kommen.
Nun hat mich die Freude so plötzlich ergriffen,
Daß ich im Übermaß meines Glückes weinen muß.
Ach, mein Auge, so vertraut bist du mit den Thränen geworden,
Daß du vor Freude und Kummer zerfließest.«

Als die Herrin Budûr diese Verse gesprochen hatte, erhob sie sich sogleich, stemmte ihre Füße an die Mauer und lehnte sich mit aller Kraft gegen die eiserne Nackenfessel, daß sie von ihrem Halse sprang und samt der Kette zerriß. Dann eilte sie zum Vorhang heraus, stürzte sich auf Kamar es-Samân, küßte ihn auf seinen Mund wie eine atzende Taube, umarmte ihn in ihrem übermächtigen Verlangen und sagte zu ihm: »Ach, mein Herr, bin ich wach oder träume ich nur? Hat Gott uns in seiner Güte wirklich wieder vereinigt?« Darauf pries sie Gott und dankte ihm für die Vereinigung mit ihrem Geliebten, nachdem sie schon daran verzweifelt hatte. Als aber der Eunuch alles dies von ihr sah, eilte er zum König El-Ghajûr, küßte die Erde vor ihm und sagte zu ihm: »Mein Gebieter, wisse, dies ist der klügste von allen Sterndeutern; er heilte deine Tochter vom Vorhang aus, ohne zu ihr hineinzugehen.« Als der König dies vernahm, fragte er den Eunuchen: »Ist diese Botschaft wahr?« und der Eunuch entgegnete: »Mein Herr, steh auf und sieh dir an, wie sie die eisernen Ketten gesprengt hat und zum Sterndeuter hinausgekommen ist und ihn küßt und umarmt.« Infolgedessen erhob sich der König El-Ghajûr und trat bei seiner Tochter ein, die sich bei seinem Anblick vor ihm erhob und ihr Haupt verhüllte.

Erfreut, sie genesen zu sehen, küßte sie der König zwischen die Augen, da er sie innig liebte, und fragte Kamar es-Samân mit huldreichen Worten nach seinen Verhältnissen und seinem Heimatslande, worauf Kamar es-Samân ihm über seine Person Mitteilungen machte und ihm erzählte, daß sein Vater der König Schahrimân wäre; dann trug er ihm seine ganze Geschichte von Anfang bis zu Ende vor und berichtete ihm, was ihm mit der Herrin Budûr zugestoßen war, und wie er ihren Siegelring ihr vom Finger gezogen und mit dem seinigen vertauscht hätte. Verwundert hierüber, sagte der König El-Ghajûr: »Fürwahr, eure Geschichte muß gebucht und nach euch von Geschlecht zu Geschlecht gelesen werden.« Alsdann ließ der König El-Ghajûr unverzüglich die Richter und Zeugen holen, schrieb den Ehebrief seiner Tochter, der Herrin Budûr, lautend auf Kamar es-Samân, und gab Befehl, die Stadt sieben Tage lang festlich zu schmücken. Hierauf wurden die Tische und Speisen aufgetragen, die Stadt wurde geschmückt, alle Truppen legten Gala an, die Freudenbotschaft wurde verkündet und Kamar es-Samân suchte die Herrin Budûr auf und freute sich über ihre Genesung und seine Verheiratung mit ihr, während das Volk Gott pries, der ihrem Herzen Liebe zu einem hübschen und jungen Prinzen eingeflößt hatte. Hernach entschleierten sie ihm die Braut, und beide glichen einander in ihrer Schönheit und Anmut, ihrer Eleganz und Grazie. Nachdem Kamar es-Samân dann die Nacht bei ihr geruht hatte, veranstaltete der König am andern Tage ein Fest, zu welchem er alle Bewohner der innern und äußern Inseln lud, und ließ ihnen einen ganzen Monat lang die Tische vorsetzen. Nach Verlauf dieser Zeit aber gedachte Kamar es-Samân seines Vaters und hörte ihn im Traume sprechen: »Ach, handelst du so gegen mich?«, so daß er am Morgen betrübt über den Tadel seines Vaters aufwachte und seiner Gemahlin seinen Traum mitteilte.

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