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Drei Heimaterzählungen

Karl May: Drei Heimaterzählungen - Kapitel 1
Quellenangabe
typenarrative
authorKarl May
titleDrei Heimaterzählungen
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Wenn sich zwei Herzen scheiden

1. Die Familie des Strumpfwirkers

Der liebe Leser ist gewöhnt, von mir in ferne Länder zu fremden Völkern geführt zu werden und von Ereignissen und Begebenheiten zu erfahren, die ihm abenteuerlich erscheinen. Da erhebt wohl manch einer den Blick vom Buch und fragt: »Ist denn das wirklich geschehn? So etwas kann doch nur in Romanen vorkommen!«

»Ja, das kommt allerdings auch im Roman vor, nämlich im Roman des Lebens. Wer sein Auge nicht nur auf die großen Ereignisse der Politik, der Wissenschaft, des Verkehrs usw. wirft, sondern auch einen Blick für die kleinen Vorkommnisse des persönlichen Lebens besitzt, wer es versteht, der Entwicklung des Einzelmenschen zu folgen, für den eine sonst ganz unbemerkte Tat, ein ganz verschwindendes Geschehnis von der größten Wichtigkeit sind, der hat sicher die Erfahrung gemacht, daß das Leben der fruchtbarste und phantasiereichste Romanschreiber ist, den es geben kann.

Oft habe ich mit Lesern gesprochen, die sagten: »Ja, da, wo sie gewesen sind, da geschieht noch etwas; aber wandern Sie nur einmal bei uns umher! Sie werden nicht so viel finden, daß Sie ein paar Seiten, viel weniger ein ganzes Buch darüber schreiben können!«

Wie irrig ist das! Ich möchte behaupten, über jeden meiner Bekannten ein fesselndes Buch schreiben zu können und habe, den vorigen Sprechern ganz entgegen, viele Leute getroffen, die meinten: »Wenn ich Ihnen meine Erlebnisse erzählen würde, so vermöchten Sie mehrere Bücher damit zu füllen.«

Ja, das Leben ist der phantasiereichste Romanschriftsteller; seine Erzählungen spielen nicht nur in Amerika, Asien und Afrika, nicht nur bei den Indianern, Mongolen, Polynesiern, Zulukaffern und Arabern, sondern auch in Europa, in Deutschland, in Bayern, Sachsen und Lippe-Detmold. Und die Phantasie dieses Romanschreibers ist in einem kleinen Städtchen des Harzes oder Thüringer Waldes, in einem verlornen Dorf der Lüneburger Heide oder der ungarischen Pußta oft ergiebiger und glänzender als in der Sahara oder in den Urwäldern von Hinterindien. Man steht dabei, man sieht und hört es, ja man erlebt es sogar mit und hat dennoch keine Ahnung davon, daß es einem »Helden der Feder« den reichsten Stoff für ein Buch bieten kann. –

In meinem Roman »Satan und Ischariot« habe ich ein besondres Ereignis aus meinem Leben nur flüchtig gestreift, weil es in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Handlung stand; nicht etwa weil ich es für nebensächlich hielt. Im Gegenteil! Es warf, wenn auch nur für kurze Zeit, in meiner Gedanken- und Gefühlswelt so stürmische Wellen, daß ich mich damals nur ungern entschloß, es dem Leser vorzuenthalten. An dieser Stelle soll das Versäumte nachgeholt werden.

Der Redakteur einer bekannten Dresdner Verlagsbuchhandlung war krank geworden und hatte mich gebeten, für ihn einzuspringen. Ich hatte zugesagt und bedurfte zunächst einiger Tage, um mich einzuarbeiten. Die Krankheit verschlimmerte sich, der Redakteur starb, und der Verleger trug mir die gutbesoldete Stelle an. Auch konnte ich im Geschäftshaus wohnen: seine Frau räumte mir zwei hübsche Zimmerchen ein. Ich wollte mich indes nicht binden und sagte ab, mußte aber versprechen, wenigstens so lang zu bleiben, bis er eine passende Kraft gefunden habe. Da gab es Arbeit über Arbeit, um so mehr als Weihnachten vor der Tür stand und die Aufträge sich häuften.

Mitten in meine Arbeit hinein platzte eine Einladung meines alten Freundes, des Professors Vitzliputzli, dessen Leben ich vorhin geschildert habe. Trotz meiner Überlastung stimmte die Einladung doch so mit meinen Wünschen zusammen, daß ich mich keinen Augenblick besann, sie anzunehmen. Sooft ich nämlich zu Haus weilte, machte ich gewohnheitsmäßig jedes Jahr um die Weihnachtszeit einen Ausflug ins Erzgebirge, um alte Erinnerungen aufzufrischen und die um diese Jahreszeit einzigartige Schönheit meiner heimatlichen Berge zu genießen. Mit einiger Mühe brachte ich es fertig, mich für wenige Tage loszureißen.

Ich schlug auch diesmal, wie gewöhnlich, von der Haltestelle der Bahn aus nicht die Poststraße ein, auf der man nicht fehlen konnte, sondern, wie man sich da oben ausdrückt, sogenannte Bauernwege, die mich so recht quer durch den Wald führten. Vorher ließ ich mir aber in der Bahnhofswirtschaft zwei tüchtige Butterbrote streichen und mit Schinken und Wurst belegen. Dann noch eine halbe Flasche Wein in die Tasche, und nun war es für drei Stunden ganz gut auszuhalten.

Bald hatte mich der Wald aufgenommen. Er lag ruhig und majestätisch wie ein Opferhain der heidnischen Germanen. Es regte sich kein Lüftchen; nicht das leiseste Rauschen ging durch die Wipfel; sie schliefen unter der weißen Decke, die auf ihnen lag. Nur das Knirschen meiner Schritte war zu hören. Hier und da ging die Fährte eines Wildes über den Weg, oder ich sah die tiefen, großen Stapfen eines armen Teufels, der »Holz gelesen« hatte.

Ich war vielleicht noch dreiviertel Stunden von meinem Ziel entfernt, als ich in einen Hohlweg kam. Dort bemerkte ich eine Menschenspur, die kurz vor mir getreten worden war. Der Betreffende mußte sehr langsam und schwer gegangen sein, denn die Stapfen waren tief eingedrückt und durch Streichungen miteinander verbunden; die Füße hatten sich also nicht über den Schnee zu erheben vermocht. Als ich um eine Biegung des Hohlwegs schritt, sah ich, wer die Spur verursacht hatte.

Da stand eine alte Fran mit einem Tragkorb auf dem Rücken, den sie auf einen aus der Wegwand hervortretenden großen Stein gestützt hatte. Der Korb war mit »Leseholz« gefüllt, und obendrauf war noch ein Haufen geschnürt, der wenigstens doppelt soviel enthielt wie der Korb selber. Die Frau war, selbst für diese arme Gegend, schlecht gekleidet: ein zerschlissener Rock, eine dürftige Schürze, in die sie jetzt die Hände gewickelt hatte, eine alte, vielfach geflickte Jacke und ein Tuch, um den grauen Kopf geschlungen. Schuhe und Strümpfe sah ich nicht, weil sie im tiefen Schnee steckten. Sie schien leise vor sich hinzuweinen, hörte aber auf, als ich mich näherte.

»Grüß Gott, Mütterchen!« sagte ich, als ich an ihr vorüberkam.

Sie dankte nicht laut mit Worten, sondern nickte nur mit dem Kopf. Dabei nahmen ihre eingefallnen Lippen jene Stellung an, in der sie bemüht sind, das Weinen zu verbeißen; in den Augen standen Wassertropfen. Ich blieb stehn, und unwillkürlich entschlüpfte mir die Frage: »Haben Sie Hunger?«

Da war es mit der Beherrschung zu Ende; sie wickelte die Hände aus der Schürze, verhüllte damit das Gesicht und weinte laut. Ich ließ das eine kurze Zeit geschehn, zog ihr dann die Hände und die Schürze vom Gesicht weg und wiederholte meine Frage:

»Sie haben Hunger? Nicht wahr?«

»Ja«, gestand sie nun flüsternd.

»So setzen Sie den Korb ab, ich habe zu essen.«

»Den Korb, den darf ich nich runtertun, ich bring ihn dann nich wieder off den Rücken.«

»Tun Sie's nur; ich werde Ihnen helfen.«

»Das geht halt nich. Sie können doch nich so lange warten, bis ich mich ausgeruht habe. Eh ich wieder weiterkann, wird's wohl noch lange dauern. Der Korb ist halt viel zu schwer für mich.«

»Warum haben Sie ihn denn so hoch gefüllt und aufgetürmt?«

»Weil ich muß. Wenn ich heut keen Holz nach Hause bring, so haben wir morgen keen Brot zu essen.«

»Das ist ja mehr als traurig! Aber setzen Sie nur ab! Ich bleibe da, bis Sie weitergehn können.«

Ich half ihr, sich des Korbes zu entledigen, zog meinen Überrock aus, hing ihn der vor Frost Zitternden um, öffnete das Paketchen mit den Schinken- und Wurstbroten, gab es ihr und forderte sie auf:

»Da, essen Sie, und setzen Sie sich dabei nieder! Sie sind ermüdet, und meinem Rock schadet es nichts, wenn Sie darauf ausruhn.«

Sie sah die Schnitten an und weinte wieder.

»Weinen Sie nicht, sondern essen Sie!« bat ich. »Essen? Das kann ich nich«, hauchte sie.

»Sie haben doch Hunger?«

»Ja, aber jeder Bissen würde mir im Mund quellen. So was Gutes gibt's bei uns im ganzen Jahr nich zu essen. Wenn das meine Leute zu Haus hätten! Sie sind so gut, lieber Herr; aber wenn Sie nichts dagegen haben, so nehme ich die schönen Bemmen mit nach Hause.«

»Um sie zu verteilen?«

»Nein, die essen Sie, und zwar jetzt gleich! Wenn Sie so müd und hungrig sind und nicht essen, wie wollen Sie da mit diesem schweren Korb heut heimkommen? Sie bleiben doch unterwegs im Schnee stecken und müssen erfrieren. Essen Sie nur! Ich gebe Ihnen dann auch noch etwas für die Ihrigen.«

Diese Versicherung brachte sie zum Essen. Es war rührend anzusehn, mit welcher Hast ihr zahnloser Mund die Speise zu sich nahm und wie es ihr dabei doch sichtlich weh tat, den Schinken und die Wurst mit zu genießen.

»So feines Brot gibt's halt bei uns nich«, erklärte sie. »Und so viel Butter drauf! Und gar noch Schinken und ooch Wurst dazu! Das gibt's bei uns am größten Feiertag nich!«

»Was sind Sie denn? Sind Sie verheiratet?«

»Schon lange Jahre nich mehr. Ich bin Witwe und lebe bei meinem Schwiegersohn, dem Strumpfwirker Vogel.«

»Er hat wohl große Familie?«

»Fünf Kinder. Das gibt mit mir acht Esser.«

»Wieviel verdient Ihr Schwiegersohn?«

»Wenn's hoch kommt, so werden's in der Woche sechs Mark, und alle Jahre gibt's zweemal lange Pausen, in denen der Stuhl ohne Arbeit steht.«

»Acht Esser und sechs Mark in der Woche! Da heißt's freilich rechnen und haushalten, um durchzukommen!«

»Haushalten und hungern, lieber Herr. Die Kartoffeln sind schlecht geraten, und der strenge Winter dazu! Nichts auf dem Leib und nichts im Leib! Das liebe Weihnachtsfest is da. Reiche Leute backen Stollen und Kuchen, hängen Lichter an die Bäume und geben sich Geschenke. Wir aber müssen Gott danken, wenn wir Kartoffeln in der Schale haben und een bißchen Salz dazu.«

»Haben Sie denn niemand, der Sie unterstützen kann?«

»Wer sollte uns was geben? Es hat ja jeder selber nichts bei uns.«

»Ja, ja, es ist ein armes Dorf; das weiß ich. Es liegt zu hoch im Gebirg. Aber ihr guten Leute bleibt auch auf der Scholle kleben, die euch, da sich die Menschen doch vermehren, schließlich nicht mehr ernähren kann. Warum geht ihr nicht dorthin, wo es mehr Verdienst und Arbeit gibt?«

»Das kann ich nich sagen, lieber Herr; dazu bin ich nich klug genug. Aber es gibt Leute, die meenen, wir blieben auf unsern Bergen, weil wir sie gar so lieb hätten, und das kann freilich wahr sein. Dann habe ich außer meiner Tochter eenen Sohn gehabt, der is in die Fremde gegangen, aber genützt hat's nichts.«

»Ist er nicht glücklich gewesen?«

»Wer weeß es! Er ging als Handwerksbursch fort; er war Schuster, wissen Sie. Eenige Male hat er uns geschrieben, aber nich viel Gutes. Der letzte Brief kam aus Hamburg; da stand drin, daß er gar nüber nach Amerika wollte.«

»Ist er auch hinüber?«

»Das kann wohl sein, weil's eben in dem Brief gestanden hat; aber sicher wissen wir's nich.«

»Und dann haben Sie wohl nichts wieder von ihm gehört?«

»Keen Wort. Er wird wohl unterwegs untergegangen sein, denn wenn er glücklich drüben angekommen wäre, so hätte er doch wenigstens een eenzigmal an seine arme Mutter und an seine Schwester gedacht. Wenn er ooch arm geblieben wäre, so kostet es doch wohl drüben nich so sehr viel, een Brief nach Sachsen zu schicken.«

»Das ist wahr. Ich bin auch schon drüben gewesen und kenne also die Verhältnisse. Der ärmste Mann verdient da so viel, daß er recht gut wöchentlich mehrere Briefe freimachen könnte, ohne sich Schaden zu tun.«

»Nich wahr? Das habe ich mir ooch sagen lassen. Er wird also wohl gestorben sein. Das hat mir lange, lange weh getan, aber jetzt habe ich mich drein ergeben. Besser wäre es freilich, er lebte noch und könnte seiner Mutter dann und wann was schicken. Ich würde es ihm danken, und der liebe Gott tät's ihm gewiß vergelten!«

Hätte die arme, doppelt arme Frau gewußt, daß ihr Sohn ein Millionär war! Er war nicht ertrunken, sonder glücklich hinübergekommen. Den Namen Ludwig Jäger änderte er in das englische Lewis Hunter um. Vom Glück begünstigt, brachte er es durch eine Heirat zu einem großen Schuhwarenladen in Neuyork. Dann lieferte er im Krieg gegen die Südstaaten Stiefel und Schuhe, zuletzt auch andres für das Heer und verdiente damit ein schweres Geld. Der Mensch hatte seine Mutter, die er durch ein Tausendstel seines Vermögens reichmachen konnte, völlig vergessen. Das wußte ich jetzt, als ich mit Ihr im Walde stand, freilich noch nicht; ich erfuhr es erst später.

Als sie gegessen hatte, entkorkte ich die Weinflasche und gab ihr zu trinken. Wie das schmeckte, und wie ihre Augen sich belebten! Dann aber sagte sie:

»Was is denn das für een Schnaps? Der is aber gut! Wie der den Magen und das Herz erwärmt!«

»Es ist kein Schnaps, sondern Wein.«

»Herrjemerschnee, Wein, gar ooch noch Wein! Wenn das meine Leute wüßten! Na, sie erfahren's noch, denn ich erzähl's ihnen ja, wenn ich nach Hause komme.«

»Haben Sie noch keinen Wein getrunken?«

»Im ganzen Leben nich! Den können nur steenreiche Leute haben, und so een er sind Sie ja!«

»Ich? Wie vermuten Sie das?«

»Weil ich Sie kenne.«

»Sie kennen mich?«

»Freilich wohl! Sie sind der Herr Lingenist, der manchmal zum Professor Vitzliputzli kommt.«

»Lingenist? Sie meinen Linguist? Woher wissen Sie, daß ich das bin?«

»Das alte Fräulein Hanne hat's erzählt, als sie beim Bäcker Weikert Gevatter gewesen ist. Aber nun hab ich gegessen und ein paarmal getrunken: jetzt muß ich sehn, wie ich weiterkomm. Ich bin schon seit ganz früh im Wald.«

»Seit früh! Ist das möglich?«

»Ja. Es war noch dunkel, als ich ging.«

»Aber vorher haben Sie zu Hause gegessen?«

»Een Schälchen Kaffee hab ich getrunken, wissen Sie, Kaffee von gebrannten Möhren.«

»Und gegessen?«

»Da hab ich mir vier kalte Kartoffeln mitgenommen; die wurden aber schon unterwegs alle.«

»Das ist alles, was Sie heute genossen haben?«

»Alles. Wenn ich heimkomme, gibt's warme Kartoffelsuppe. Was das dann für een Labsal ist, lieber Herr, wenn man so durchfroren is, das kann ich gar nich sagen.«

»Eine Tasse Möhrenkaffee und vier kalte Kartoffeln! Da sollten Sie nicht so weit in den Wald gehn und nicht so viel aufladen.«

»Das können Sie gut sagen; aber was gibt's zu essen, wenn ich nich genug Holz mitbring? Grad jetzt, kurz vor Weihnachten, hat mein Schwiegersohn keene Arbeet, und meine Tochter liegt krank zu Hause. Da schnitzt er, um sich nur een Paar Pfennige zu verdienen, Holzlöffel, wofür er eenen Groschen für das Dutzend bekommt, und ich geh in den Wald, um Holz zu lesen; das wird kurzgehackt, in Bündeln gebunden und in die Stadt getragen, wo ich fürs Bündel fünf Pfennig erhalte. Jetzt liegt das Holz alles unterm tiefen Schnee, und man hat weit zu gehn, um eenen tüchtigen Korb voll zusammenzubringen. Darum bin ich heut so lange unterwegs. Sehn Sie nun: je mehr ich bringe, desto mehr Fünfer verdiene ich.«

»So sagen Sie mir einmal, wieviel Bündel gibt das Holz, das Sie hier haben?«

»Vier.«

»Also für zwanzig Pfennig! Und dafür schinden Sie sich von früh bis abends bei Schnee und Kälte im Wald herum!«

»Oh, das is ja noch nich alles. Das Holz muß doch erst gehackt und nachher in die Stadt getragen werden, zwee Stunden weit! – Aber jetzt wird's Zeit, daß ich fortmache!«

»Trinken Sie erst noch einmal! Und dann stecken Sie die Flasche ein, damit Ihre kranke Tochter auch einen Schluck Wein bekommt. Und dieses hier stecken Sie dazu!«

Ich gab ihr die Flasche sowie ein Geldstück. Sie sah es an und hielt es mir wieder hin:

»Sie haben sich vergriffen, lieber Herr. Das is keen Fünfer und keen Groschen, das is ooch keene halbe Mark, was ich gar annehmen könnte. Das kenne ich gar nich, das is doch gelb!«

»Nehmen Sie es nur! Es ist nicht zu wenig und nicht zu viel. Der Kaufmann weiß schon, was es gilt.«

»Na, dann dank ich ooch. Gott vergelt's! Wissen Sie, was ich da mach?« Sie hob den Zeigefinger, zog ein glücklich-pfiffiges Gesicht, wie wenn jemand eine frohe Überraschung bereiten will, und fuhr fort: »Heut is Samstag, da is abends Gesangverein!«

»So? Gibt's in Ihrem Dorf einen Gesangverein?«

»Und was für eenen! Es sind da Leute, die schöne Stimmen haben, aus mehreren Dörfern zusammengetreten, über dreißig Mitglieder. Sie wechseln ab; bald wird die Singstunde in diesem und bald in jenem Dorf abgehalten. Es gibt gute Sänger darunter, aber mein Schwiegersohn ist doch der beste!«

»So! Was singt er?«

»Was in den Büchern steht, wo die Noten drin sind.«

»Ja, ja! Aber ich meine, welche Stimme er hat.«

»Stimme? Ja, richtig, sie singen ooch manchmal von Stimmen statt aus Büchern.«

»Sie verstehn mich nicht. Singt er tief oder hoch?«

»Manchmal tief und manchmal hoch, wie's die Noten grad mit sich bringen.«

»Natürlich, aber ich meine, ob er Baß singt?«

»Nee.«

»Tenor?«

»Ja, ja, so heeßt das Ding. Tenor singt er, ersten Tenor. Er schmilzt.«

»Wie? Er schmilzt? Was soll das wohl heißen?«

»Na, daß er eben schmilzt. Das sagt der Herr Direktor, weil seine Stimme gar so schön ist.«

»Ach so; er hat eine schmelzende Stimme?«

»Richtig! Eene schmelzende Stimme hat er: er schmilzt so schön. Aber, was ich sagen wollt: wenn Gesangverein is, so wird doch immer was getrunken, und da kann mein Schwiegersohn nich mittun, weil's ihm am Besten fehlt; er is der ärmste von allen. Höchstens gibt ihm mal een anderer eenen Schluck. Heut haben Sie mich beschenkt. Sie wollen mir nich sagen, was es is, aber vom Kaufmann werd ich's schon erfahren. Wenn's über zwanzig Pfennige sind, so kriegt der Schwiegersohn eenen ganzen Groschen davon, daß er ooch mal een ordentliches Glas Bier vor sich hinsetzen kann. Da haben Sie doch nichts dagegen?«

»Gar nichts; ich lobe Sie vielmehr dafür.«

»Nich wahr? Er verdient's, er verdient's wirklich! Denn wir haben am Ort auch eine Musikkapelle. Und wissen Sie, wer der Vorstand ist? Mein Schwiegersohn!«

»Was Sie nicht sagen!«

»Ja, der versteht mehr als Löffel schnitzen!« erklärte sie mit Stolz. »Den sollten Sie mal hören, wenn er een Lied mit seinem Instrument, auf der Tschinellen, begleitet!«

»Auf der Tschinellen? Sie meinen wohl auf dem Cello?«

»Ja, so wird das Ding ausgesprochen. Es wird eenem ordentlich schwummelig zumute, wenn man ihn spielen hört. Das weint und schluchzt, daß man am liebsten selber weinen möchte. Aber mein Schwiegersohn meent, daß es sein Junge, mein Enkelkind, noch viel besser könne.«

»Ein Junge? Wie alt?«

»Fünfzehn.«

»Was spielt er?«

»Erste Geige.«

»Erste? In diesem Alter?«

»Oh, mein Schwiegersohn sagt, daß er alle, die er kennt, über den Haufen geigt.«

»Das ist ja außerordentlich! Könnte ich ihn vielleicht einmal spielen hören?«

»Das gloob ich nich.«

»Warum nicht?«

»Vor Fremden schämt er sich.«

»Das wird er doch nicht! Wenn er so gut geigt, hat er doch nicht nötig, sich zu schämen.«

»Er is aber nu mal so. Und das kann niemand ändern.«

»Da er fünfzehn Jahre alt ist, wird er sich schon für einen Beruf entschlossen haben. Was will er werden?«

»Was soll er werden! Ganz dasselbe, was sein Vater ooch is: Strumpfwirker und Musiker nebenbei.«

»Nebenbei? Das wäre jammerschade! Wenn er Talent hat, wird ihn sein Vater doch nicht als Dorfmusikant hier sitzenlassen!«

»'s wird wohl nich anders werden. In die Stadt kann er ihn nich geben, des Lehrgelds wegen, was er nich offbringen kann, und er hat ooch gar keene Lust, von zu Hause fortzumachen.«

»Wer ist sein Lehrer gewesen?«

»Sein Vater. Aber itzt geigt er ihn zehnmal über den Haufen!«

»Dann möchte ich ihn wirklich einmal hören. Können Sie das denn nicht möglich machen?«

»Nee. Wenn der Franz nich will, da ziehn zehn Pferde nich eenen Strang. Er mag eemal von Fremden nichts nich wissen. Aber – na, vielleicht tät er's Ihnen doch zuliebe!«

»Meinen Sie?«

»Ja, möglich is es, weil Sie mir zwee große Bemmen gegeben haben mit Wurst und Schinken, und sogar eenen Wein, was wir das ganze Leben lang nich kriegen. Aber itzt hab ich lang genug geschwätzt. Itzt muß ich endlich fort!«

»Ja, gehn wir! Ich werde Ihnen den Korb aufhelfen.«

Ich hob ihn ihr auf den Rücken. Solang ich ihn hielt, ging's; sobald ich die Hände wegnahm, knickte sie nieder; sie hatte sich zu sehr angestrengt und war jetzt zu schwach, die Last weiterzutragen.

»So geht's nicht«, sagte ich. »Wir müssen den Inhalt verringern, wir müssen Holz wegnehmen.«

»Nee, ach nee!« rief sie aus. »Es muß so bleiben, vier Bündel muß es geben.«

»Wir nehmen so viel, wie zu einem Bündel gehört, hinweg, und ich gebe Ihnen die fünf Pfennige, die Sie dadurch einbüßen.«

»Nee, ach nee! Sie haben mich genug beschenkt. Ich werd's schon noch fertigbringen.«

Aber sie traute ihren achtzig Jahren zuviel zu. Es war von ihr schon bei gutem Wetter und gutem Weg in diesem Alter eine ganz ungewöhnliche Leistung, einen solchen Korb zu tragen, wie erst in dieser Kälte und bei dem tiefen Schnee! Aber sie wollte unbedingt nichts hinwegnehmen lassen, obgleich sie bei jedem Versuch zusammenknickte. Das war die kindische Hartnäckigkeit des hohen Alters, das die Eigenheiten der frühen Jugend wieder anzunehmen pflegt. Ich machte kurzen Prozeß, nahm den Korb auf den Rücken, den Überrock auf den Arm, den Stock in die Hand und sagte:

»Dieser widerspenstige Korb wird auf meinem Rücken williger sitzen als auf dem Ihrigen. Kommen Sie!«

Sie stand starr und verwundert.

»Bitte, kommen Sie, Mütterchen! Jetzt wird es wohl besser klappen.«

»Was«, rief sie aus. »Sie – Sie – Sie wollen den Korb tragen? Das – das – das geht ja nich!«

»Es geht sehr gut, wie Sie sehn!«

»Nee, das – das geb ich nich zu!«

»Sie müssen es zugeben, denn ich bin schon auf dem Weg. Wenn Sie nicht mitkommen, laß ich Sie stehn.«

Ich ging, und sie kam unter eifrigen Einsprüchen und Bitten hinterdrein. Ich ließ mich aber nicht einholen, sondern hielt mich so im Schritt, daß sie immer, wenn auch nicht weit, hinter mir zurückblieb. Ihr Widerspruch verstummte nach und nach, und endlich fügte sie sich still in die ihr ungeheuerlich dünkende Begebenheit.

Wir kamen mit der Zeit aus dem Wald und hatten das Dorf vor uns. Da wollte sie den Korb haben, ich aber gab ihn nicht her.

»Aber Herr Lingenist, wo denken Sie hin!« sagte sie. »Wenn jemand kommt, so wird's weitererzählt!«

»Was schadet das? Ist es eine Schande, einen Korb zu tragen?«

»Nee, gar nich. Bei uns scheniert das keenen, aber so een feiner Herr, und noch dazu een Lingenist und guter Bekannter vom Professor! Was würde der sagen!«

»Nichts. Kommen Sie nur! Wo ist Ihr Haus?«

»Das kleene Häuschen kurz vor dem Spritzenhaus links am Berg.«

»Das kenne ich. Kommen Sie! Oder wollen Sie mich allein gehn lassen? Ich habe nichts dagegen.«

Sie kam mir nach, schnell und eifrig. Sie wollte mich einholen, um den Korb selber zu nehmen, ich ließ sie aber nicht ganz herankommen. So ging es halb und halb im Trab durch das Dorf. Überall fuhren die Köpfe an die Fenster, und wo einer auf der Straße war, da blieb er mit offnem Mund stehn und starrte uns nach. Mir machte das kleine Abenteuer Spaß; das alte Mütterchen aber schämte und ärgerte sich. Endlich sah ich das Spritzenhaus und links davon das kleine Häuschen, das sie mir bezeichnet hatte; ich ging darauf zu. Da kam ein junges Mädchen aus der Tür, mit einem Wassereimer in der Hand. Es war ärmlich gekleidet, vielleicht nicht ganz siebzehn Jahre alt, aber ein reizendes Kind. Wenn sie sich so weiterentwickelte, mußte sie eine Schönheit werden. Als sie uns sah, blieb auch sie stehn; sie erschrak förmlich.

»Wohnen Sie hier?« fragte ich.

»Ja.«

»Wie heißen Sie?«

»Martha. Martha Vogel.«

»Schön! Hier, Martha, haben Sie den Korb und auch die Großmutter. Machen Sie ihr eine recht warme Kartoffelsuppe! Morgen werde ich Ihren Vater besuchen.«

Ich setzte den Korb ab, zog den Überrock an und ging wieder zurück, denn Professor Vitzliputzli wohnte auf der Seite, auf der wir ins Dorf gekommen waren.

Wie aber hatte sich das in der Zeit von zwei Minuten verändert! Überall gab es offene Türen, vor denen die Bewohner standen, um mich wie ein Wundertier anzustaunen. Überall wo ich vorüberkam, hörte ich freundliche Grüße, und die Hüte, Mützen und Zipfelmützen flogen von den Köpfen. Ich stand im Begriff, der Held des Tages zu werden. – – –

Am nächsten Mittag nach Tisch ließ ich den Professor trotz seines heftigen Widerspruchs allein zwischen seinen indianischen Zahlwörtern und Lautnachahmungen zurück und ging ins Dorf, um den Strumpfwirker Vogel aufzusuchen. Ich kam da in ein recht ärmliches Häuschen. Es bestand nur aus zwei Stuben, die nicht getüncht waren. Die kranke Frau lag im Bett. In der Ecke am Fenster stand der Arbeitsstuhl, der aber jetzt Feiertage hatte. In der andern Ecke sah ich einen Kachelofen, um den eine Bank ging. Zwischen Wand und Ofen blieb ein schmaler Raum, die sogenannte »Hölle«, in der das mit Brettern beschlagene Holzgerippe eines alten Kanapees stand; darauf hockten die drei jüngeren Kinder. Die älteste Tochter, Martha, die ich schon gestern gesehn und gesprochen hatte, reinigte das Geschirr vom Mittagessen her, und der Vater saß inmitten der Stube auf einem niedrigen Schemel und schnitzte an einem Stück Holz herum, das wohl ein Holzlöffel zu werden versprach, aber im gegenwärtigen Zwischenzustand einem jener Holzkeile nicht unähnlich sah, mit dem die Holzknechte im Wald die Klötze auseinandertreiben. Das war also der erste Tenorist mit der schmelzenden Stimme. Sein Gesicht war blaß und eingefallen; er sah überhaupt leidend aus, und der Anzug, den er trug, war mehr als dürftig zu nennen. Auf der Ofenbank saß die Alte, deren Korb ich gestern getragen hatte, und ein größerer Junge flüchtete sich bei meinem Eintreten schleunigst hinter Martha, wo er sich versteckte und sich wie ein kleines Kind an ihre Schürze klammerte.

Die Stube hatte ein sehr ärmliches, aber ebenso reinliches Aussehn. An der Wand hing eine Geige und an der andern waren die gedruckten Worte eingerahmt:

»Mit Gott fang an, mit Gott hör auf,
das ist der beste Lebenslauf!

Was mir gleich beim ersten Blick auch heut wieder auffiel, das war die ganz eigenartige Schönheit der noch nicht siebzehnjährigen Tochter. Sie war schon über ihr Alter hinaus erblüht, hatte ein starkes und langes, helles Germanenhaar, aber bräunliche Gesichtsfarbe und schwarze, mandelförmige Damaskusaugen mir langen, vollen und dunklen Wimpern. Ihre Hände waren ungewöhnlich klein und ebenso ihre Füße, was man trotz der hölzernen Pantoffel bemerkte, in denen sie steckten. Wenn sie sprach oder lächelte, sah man zwei Reihen kleiner, kerngesunder, bläulich angehauchter Perlenzähne. Ich glaube, einige Jahre früher wäre ich recht wohl imstande gewesen, auf dieses hübsche und so sittsame Kind einige hundert Verse loszulassen, natürlich mit den unvermeidlichen Reimen Herz und Schmerz, Triebe und Liebe, Not und Tod.

Vogel stand von seinem Schemel auf, als er mich eintreten sah. Ich grüßte rundum und gab ihm die Hand. Er wagte in seiner Schüchternheit die meinige kaum zu berühren.

»Nun, wie geht's, Vater Vogel?«

»Dank Ihnen ooch für die Nachfrage. Wie man's eben nimmt. Wir sind zufrieden.«

»Und die Großmutter? Hat sie sich von der gestrigen Anstrengung bereits erholt?«

»O, das war nich so schlimm. Sie sagte, sie hätt' es noch nie nich so gehabt. Sie haben ihr ja zwee große Bemmen mit Wurst und Schinken gegeben, den Tragkorb durch den Wald und durchs Dorf heeme getragen und nachher gar noch een Goldstück geschenkt. Na, was die für Oogen gemacht hat, als ihr's der Krämer sagte, was das Goldstück wert war. Sie hat mir vor lauter Freude gleich fufzig Pfennige off eemal zu Bier gegeben; ich hab's aber nich vertrunken, denn ich brauch's zur Medizin für meine kranke Frau.«

»Was fehlt ihr denn?«

»Ja, das wissen die Doktors selber nich; der eene redet so und der andre anners. Es is eene wahre Plage. Die Martha hat in der Stadt gedient und uns immer ihren Lohn geschickt; das is aber itzt ooch zu Ende, denn sie hat nach Haus gemußt, weil die Mutter nichts arbeeten kann. Wenn die erst wieder gesund is, dann muß sie wieder fort.«

»Der liebe Gott wird helfen«, tröstete ich. »Lassen Sie nur den Kopf nicht hängen! Aber ich bin eigentlich wegen Ihres Franz gekommen. Ich möchte die Geige gern sehen. Darf man sie herunternehmen?«

»Nee, nee; die is meine; die is meine!« zeterte es hinter der Gestalt Marthas.

Vater Vogel holte die Geige aber doch herab.

»Die is meine, die is meine«, wiederholte der Junge.

Ein fünfzehnjähriger Junge und noch so kindisch! War er verzogen worden, oder lag das so in seiner Natur?

Sein Vater stimmte die Saiten, nahm auch den Bogen vom Nagel und rief dem Jungen zu: »Komm her, Franz, und zeig dem Herrn mal, wie sie klingt!«

»Nee!« antwortete der, indem er immer hinter der Schwester stehenblieb, sie mochte sich drehn, wie sie wollte.

Wir baten, der Vater und ich: »So komm doch!«

»Nee!«

»Warum nich?«

»Ich schäme mich!«

»So een großer Junge! Na, mach nur!«

»Nee, ich komm nich!«

»Der Herr gibt dir eenen Fünfer!«

»Nee!«

»Eenen ganzen Groschen!«

»Ach nee!«

»Fünfzig Pfennig«, schlug ich vor.

»Nee, ich komm nich!«

Ich gebe diese Szene nur wegen des Gegensatzes zum Späterfolgenden so treu und ausführlich wieder.

»Geh hin, Franz!« versuchte es nun die Großmutter: »Du weeßt doch, was für een guter Herr das is!«

»Nee!«

»Er hat mich doch beschenkt!«

»Nee!«

»Warum denn aber nich?«

»Er is mir zu fein!«

»Ach, das tut nichts. Er is doch gar nich so stolz, wie du denkst.«

»Nee, ich komm nich!«

Kurz und gut, man gab sich alle erdenkliche Mühe mit dem jungen Burschen; man bot, man drohte mit Schlägen, doch vergeblich. Seine Antwort blieb immer dieselbe: »Nee, ich komm nich!« Und hinter seiner Schwester war er nicht hervorzubringen. Das mußte anders angefangen werden. Ich sagte also:

»Lassen Sie ihn nur! Was hab ich denn davon, wenn ich ihn spielen höre! Ich will selbst einmal die Geige versuchen.«

Ich zog den Mantel und auch den Rock aus und setzte mich in Hemdärmeln auf den Sitz des Arbeitsstuhls, wo ich zu geigen begann – wie ein Anfänger, erst ein paar Tonleitern, dann einige Kindermelodien wie »Wer meine Gans gestohlen hat«, oder »Alles neu macht der Mai, macht die Seele frisch und frei«. Als ich in dieser Weise fortfuhr, ertönte hinter Martha ein kindisches Lachen, und dann hörte ich den Jungen sagen:

»Der kann nischt, gar nischt! Der is een Schafskopf!«

Ich ließ noch einige Melodien hören und fragte dann wie nur so nebenbei: »Kann denn der Junge spielen?«

»Ja«, antwortete der Vater.

»Na, viel wird's nicht sein! Erstens ist die Geige schlecht, denn so ein alter Kasten ist mir noch gar nicht vor die Augen gekommen.«

Da steckte er den Kopf hinter der Schwester hervor und sah mich mit blitzenden Augen an. Daß ich seine Geige schlechtmachte, das begann seine befestigte Stellung ins Wanken zu bringen.

»Und zweitens«, fuhr ich fort, »ist hier kein geeigneter Ort dazu. Woher soll auf so einem Dorf die Gabe zum Violinspiel kommen! Wer weiß, was für Zeug der Junge da zusammenkratzt; spielen aber kann er jedenfalls nicht.«

Da rief er von seiner Verschanzung mir zornig zu: »Na, so wie Sie kann ich's ooch! Und noch viel, viel besser!«

»Lüge nicht!«

»Ich mach keene Lügen! Ihretwegen schon gar nich!«

»Was willst du denn gelernt haben!«

»Na, wenn ich solche Puppenlieder spielen sollt, wie Sie, und noch dazu so unreene greifen, da tat ich mich in die Seele 'nein schämen!«

Ich hatte seinen Künstlerstolz wachgerufen und sah mich meinem Ziel näher. Daß er grob wurde, gab mir Spaß. Ich fuhr fort:

»Und ich schämte mich ins Herz hinein, mich so zu verstecken, wenn ich wirklich was gelernt hätte! Ich kann übrigens noch andre Sachen spielen, die viel, viel schwerer sind. Horch einmal!«

Ich spielte einen kinderleichten Tanz.

»Na, wenn das schwer ist!« lachte er überlaut.

»Du, schneid' nur nicht auf! Du tust nur groß, aber nachmachen kannst du es nicht.«

»Nich?« fragte er, indem er seine befestigte Stellung aufgab und hervortrat. »Was Sie spielen, das spiele ich alles nach!«

»Tu nicht so dick! Wenn ich etwas spiele, das du noch nicht kennst, wie willst du das nachmachen?«

»Sie können ja nischt, gar nischt! Da spiel ich oogenblicklich alles nach!«

»Unsinn!«

»Is wahr!« schrie er mich an, indem er näher kam.

»Das kommt auf eine Probe an. Aber da wirst du gleich das Kanonenfieber bekommen und ausreißen.«

»Ich reiß net aus! Mit meiner Geige brauch ich keene Angst zu haben«, versicherte er, indem er ganz herkam. »Wollen wir wetten?«

»Ja«, nickte ich verächtlich.

»Ziehn Sie keen solches Gesichte! Sie verliern doch! Was gilt die Wette, daß ich alles nachspiele, was Sie mir da vorkratzen?«

»Bestimme es selbst!«

»Een neues Kopptuch für meine Großmutter.«

»Wie kommst du auf das Kopftuch?«

»Weil sie eens braucht. Sie friert an die Ohren, sagt sie. Ich werd ihr's itzt ergeigen.«

Der Junge war kein übles Kerlchen. Er sah seiner ältesten Schwester ähnlich. Daß er für seine Großmutter sorgen wollte, gewann ihm meine Teilnahme noch mehr, als er sie schon vorher besessen hatte. Er stand grad vor mir da, die beiden Hände in die Seiten gestemmt, und sah mich sehr herausfordernd an.

»Aber wenn du verlierst, so mußt du das Kopftuch zahlen!«

»Wir haben Geld, zehn Mark!« antwortete er zuversichtlich.

»Gut, so mag die Wette gelten! Du wirst aber sehn, wie rasch du sie verlierst.«

»Fangen Sie an! Es wird ooch was Rechtes sein!«

Daß ich die beiden Röcke ausgezogen hatte und nun hemdärmelig dasaß, das hatte seiner Festung den ersten Stoß gegeben, denn ich sah nun nicht mehr so »nobel« aus wie vorher. Jetzt war er gereizt. Man merkte ihm an, daß er den Beginn kaum erwarten konnte. Ich nahm eine sehr wichtige Miene an und spielte »Muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus«. Dann hielt ich ihm die Geige hin.

»Das mach ich nich nach; das geig ich nich«, meinte er wegwerfend. »Mit solchen Sachen fangen wir gar nich an. Wenn Sie weiter nischt können, so bezahlen Sie lieber gleich das Tuch!«

Da spielte ich die ersten beiden Sätze eines Marsches.

»Das mag eher gehn«, sagte er und geigte sie mir nach.

Dann folgten einige andre, schwerere Sachen, die er sofort wiederholte. Hierauf brachte ich Gungls Heimatklänge mit Flageolet; er strich sie mir mit Anmut nach. So ging es von Versuch zu Versuch, stufenweise immer höher, und er folgte mir, ohne ein einziges Mal sich zu vergreifen oder auch nur zu stocken. Natürlich verzichtete ich auf Dinge, die selbst ein ausgelernter Geiger nicht ohne Noten hätte nachspielen können; er sollte ja die Wette gewinnen; es genügten kurze Sätze, die immer schwieriger wurden, sein Können zu erforschen. Als ich dann merkte, daß er zu ermüden begann, legte ich die Violine weg und gestand:

»Mehr kann ich nicht; ich höre auf.«

»Na, wer hat denn da die Wette gewonnen?« lachte er stolz.

»Du.«

»Und Sie müssen das Kopptuch geben!«

»Ich bezahle es, was kostet eins?«

»Nee, das geht nich! Ich will nich das Geld, sondern das Tuch, wie es ausgemacht ist.«

»Gut, so kaufe ich eins und bringe es her. Du hast mich wirklich übertroffen. Kannst du denn auch noch besser spielen als so, wie ich es bis jetzt gehört habe?«

Da nahm er freiwillig die Geige, lehnte sich mit dem Rücken an den Arbeitsstuhl und sagte:

»Pfeifen Sie mir mal eene hübsche Melodie vor!«

»Was für eine?«

»Eene unbekannte. Können Sie sich nich gleich eene machen?«

»Ich will's versuchen.«

Ich pfiff ihm einen gleich selbst erfundenen Satz von acht Takten vor. Er wiederholte ihn einige Male, um ihn sich genau einzuprägen, und bearbeitete ihn dann auf der Geige; das heißt, der fünfzehnjährige Knabe begann, frei zu phantasieren. Natürlich war das nicht das Spiel eines technisch wie theoretisch durchgebildeten Künstlers. Der Junge hatte keine Ahnung von der eigentlichen Technik der Violine, von der sein Vater, der sein einziger Lehrer war, ja auch nichts verstand; aber er spielte wohl über eine Viertelstunde lang in einer Weise über das ihm gegebene Thema, daß ich erstaunte und zu der festen Überzeugung kam, daß er nicht nur Talent besaß, sondern genial veranlagt war. Er ahmte nicht nach, sondern er spielte schöpferisch. Er war ein geborner, von Gott begnadeter Violinspieler. Als er die Geige dann fortlegte, streichelte ich ihm die erregten Wangen und sagte:

»Deine Großmutter soll drei Tücher haben und nicht nur eins. Kann man nicht welche hier zu kaufen bekommen?«

»Ja«, nickte er vergnügt, »der Krämer handelt damit.«

»So gehst du nachher mit mir hin und suchst sie selber aus. Hast du nicht Lust, ein berühmter Geiger zu werden?«

»Das möchte ich halt schon!«

»Der viel, viel Geld verdient und seinen Eltern ein schönes Haus schenken kann?«

»Ja, da mach ich off der Stelle mit.«

»Aber da müßtest du von hier fort.«

»Wohin?«

»In eine große Stadt, zu einem Kapellmeister und ins Konservatorium.«

»Nee, da komm ich nich!«

»Aber die Berühmtheit, die du da erlangst?«

»Die krieg ich ooch hier!«

»Und das Geld, mit dem du die Geschwister unterstützen kannst?«

»Ich werd mir ooch hier schon was verdienen. Ich komm nich mit!«

»Machen Sie nur den Jungen nicht scheu!« bat der Vater. »Ich geb ihn nicht her.«

»Nee, fort lassen wir ihn nich!« erklang es vom Bett herüber.

»Ja, der bleibt hier!« stimmte auch die Großmutter bei. »Wie lang hab ich noch zu leben? Ich tät ihn wohl gar nie nich wiedersehn!«

Und dabei blieben sie vorläufig.

»Nun, darüber sprechen wir später noch einmal«, meinte ich.

Damit zog ich meine beiden Röcke wieder an, setzte den Hut auf und sagte:

»Und jetzt geh ich zum Krämer. Franz mag mitkommen.«

Dort suchte sich der Junge drei nach seiner Ansicht wunderbare schöne Tücher aus, die in allen Regenbogenfarben prangten.

»Die hab ich gewonnen; die hab ich der Großmutter ergeigt!« rief er aus, indem er mit ihnen davonlief.

Ich ging während meines Aufenthalts im Dorf noch einigemal zum Strumpfwirker Vogel und gab mir alle Mühe, den Leuten beizubringen, daß es die größte Versündigung an ihrem Kind sei, ihm den Weg zum Glück zu verschließen, doch vergebens, Sie gaben ihn eben nicht her. Und wenn ich den Jungen, der eine herzliche Zuneigung zu mir gefaßt hatte, hernahm, so mochte ich ihm sagen, was ich wollte, seine letzte Antwort blieb immer nur die früher schon gehörte: »Ich komm nich mit; nee, ich geh nich mit!« Ich ließ endlich, wirklich erzürnt über sie, von ihnen ab. Die Tochter schien die einzige zu sein, die einsah, wie gut ich es meinte, doch konnte sie nichts gegen die Querköpfigkeit der andern tun. – –

*

2. Ein neuer Paganini

Ich glaubte nach dieser Abfuhr die ganze Angelegenheit für endgültig abgetan, wurde aber im nächsten Frühjahr an sie erinnert. Mit der schönen Jahreszeit begannen in Dresden die Konzerte im Freien, die ich häufig besuchte. Am Schluß eines solchen saßen wir, einige nähere Musikfreunde, noch beisammen, um uns über das heutige Programm weiter zu verbreiten, als es während des Konzerts selbst möglich gewesen war. Der Kapellmeister kam auch hinzu. Er war übel gelaunt und antwortete, als wir ihn nach der Ursache fragten:

»Mein erster Geiger hat gekündigt, gleich jetzt nach dem Konzert, weil ich ihm eines Fehlers wegen eine Bemerkung machte. Diese Herren sind jetzt so zartfühlig und nervös, daß es eine wahre Kunst ist, sie länger als ein Vierteljahr beim Taktstock zu erhalten. Besonders die ersten Geiger. Jeder von ihnen hält sich natürlich für einen Paganini, auf den die Millionen nur so warten.«

»Ja, die alten Zeiten sind auch in Ihrem Fach vorüber«, klagte ein reicher Rentner, der nie ein Konzert des Kapellmeisters versäumte. »Früher lernte man sich die Jungen an, setzte einen jeden an das für ihn passende Instrument, zog ihn langsam groß und konnte versichert sein, daß es nicht leicht einem einfallen werde, sogleich nach dem Flüggewerden in die Welt zu laufen. Heut ist das anders; es gibt einen ewigen Wechsel, ein immerwährendes Hasten und Jagen nach Ersatz der abgehenden Kräfte. Ich möchte nicht Kapellmeister sein!«

»Warum nicht! Wenn dieses Suchen nur von Erfolg wäre! Finde ich aber im Laufe des Monats nichts Gescheites, so muß ich nehmen, was sich mir bietet, und jage nach vier Wochen den Neuen wieder fort, um mit einem noch Neueren noch größern Ärger zu haben. Ich würde viel, sehr viel dafür geben, wenn ich einen begabten Menschen fände, den ich mir für die erste Violine heranbilden könnte, ohne befürchten zu müssen, daß er mir nach der Lehrzeit gleich wieder von dannen geht.«

»So?« fragte ich. »Wieviel würden Sie denn geben?«

»Nun, auf einen Tausender würde es mir nicht ankommen.«

»Topp! Ich halte Sie beim Wort! Ich kann Ihnen helfen.«

»Haben Sie vielleicht einen Paganini für mich?«

»Ja, droben im Gebirg.«

»Wie alt?«

»Fünfzehn.«

»Und da wollen Sie schon wissen, daß er ein erster Geiger wird?«

»Ich habe ihn gehört. Genügt Ihnen das nicht?«

»Wenn Sie das in diesem Ton sagen, muß es genügen; dann steckt in dem Jungen sicher ein ausgesprochnes Talent.«

»Noch mehr! Ich möchte behaupten: sogar ein Genie!«

»Donner und Doria! Wer ist denn dieser zukünftige Wilhelm! oder Ola Bull?«

»Er ist der Sohn eines armen Strumpfwirkers oben im Gebirg. Ich hätte die Familie gern dazu bestimmt, den verheißungsvollen Jungen in die Stadt zur Ausbildung zu schicken, bin aber so gründlich abgeblitzt, daß ich die Leute eigentlich nicht mehr belästigen wollte. Aber nach dem, was Sie vorhin sagten und wünschten, möchte ich doch noch einen Versuch machen, diesen genial veranlagten Knaben vom öden Strumpfwirkerstuhl wegzureißen. Sooft ich bisher an den Jungen dachte, hat es mir immer wie ein schwerer Vorwurf wegen einer unerfüllten Pflicht aufgelegen. Vielleicht helfen Sie mir, mich des Vorwurfs zu entledigen, indem ich durch Sie diese Pflicht erfülle.«

»Das klingt ja ungemein feierlich.«

»Es ist mir allerdings sehr ernst mit dieser Sache. Hören Sie!«

Ich erzählte meine auf die Familie Vogel bezüglichen Erlebnisse. Die anwesenden Herren hörten mit großer Aufmerksamkeit zu, die sich, besonders bei dem Kapellmeister, immer mehr steigerte. Als ich geendet hatte, sprang er auf und rief:

»Wenn es so ist, dann fahre ich unbedingt hinauf zu diesen Leuten. Der Junge ist eine prachtvolle Erwerbung für mich. Den muß ich haben! Denken Sie, daß ich ihn erhalte?«

»Nicht leicht«, antwortete ich. »Es kommt aber immerhin auf einen Versuch an, der Ihnen nur die Versäumnis zweier Tage kosten würde.«

»Ja; aber Sie müssen mit, denn ich befürchte, daß der sonderbare Kerl mir gar nichts vorspielen würde. Und ich könnte das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden, indem ich einen früheren Schüler von mir besuche, der jetzt die Kapelle in Bad Ottenstein bei Schwarzenberg übernommen hat. Ich denke, daß Sie sich auch zwei Tage losmachen können. Sie fahren also mit. Mir paßt es am besten übermorgen mit dem ersten Zug. Und Ihnen?«

»Ich stecke allerdings bis über die Ohren in Arbeit. Doch werde ich es zu ermöglichen suchen.«

»Schön! Abgemacht! Aber dieser neue Stern am Himmel der Tonkunst muß gefeiert werden. Heda, Kellner! Bringen Sie eine Flasche vom Besten!« – –

Wir fuhren also am übernächsten Morgen und kamen am Nachmittag oben an. Natürlich begaben wir uns sofort nach der Wohnung des Professors Vitzliputzli, der, als er den unbekannten Gast sah, nicht übel Lust zeigte, uns die Tür vor der Nase zuzuwerfen. Glücklicherweise beschäftigte er sich gerade mit der Untersuchung der verschiedenen Klangfarben der indianischen Musikinstrumente, und es gelang mir, ihn zu überzeugen, daß ein Kapellmeister mit seinem feinen und wohlgeübten Ohr die geeignetste Person sei, in dieser Angelegenheit sein Sachverständigenurteil abzugeben. Er fühlte sich tatsächlich im Verlauf der Unterhaltung so zufriedengestellt, daß ich, als der Abend hereinbrach, dem Professor gute Worte geben mußte, bis er uns die Erlaubnis erteilte, ihn zu verlassen und die Familie Vogel aufzusuchen.

Wenn es mir so große Mühe gemacht hatte, den Knaben zu bewegen, bloß mir etwas vorzuspielen, so stand zu befürchten, daß er zweien gegenüber noch schüchterner sein werde. Daher schlug ich dem Kapellmeister vor, er solle vor dem Haus warten, während ich allein hineingehn wollte.

Als ich die Stube betrat, saß die Familie beim Abendessen. – Kartoffeln mit ein wenig Quark. Es war wirklich herzerfreuend, wie schnell und froh alle von ihren Sitzen fuhren, als sie mich erblickten. Die Frau hatte sich leidlich erholt und lud mich, nur der Gewohnheit folgend, zum Essen ein. Ich erhielt, als ich mir einige Kartoffeln geschält hatte, einen Löffel voll Quark auf einer Untertasse vorgesetzt. Bei der ältesten Tochter kam und ging die Röte im Gesicht; sie hatte in einer bessergestellten Familie gedient und wußte gar wohl, daß ich eigentlich nicht an ihren Tisch paßte. Aber Franz, der Junge, auf den ich es abgesehn hatte, blickte ganz stolz darein, daß ich heut gezwungen war, meinen Hunger aus seiner Schüssel und auf seine Kosten zu stillen. Das brachte uns einander näher, und als ich verschiedene gleichgültige Fragen an ihn richtete, zögerte er mit seinen Antworten gar nicht so wie im vergangnen Winter.

An der Wand hing eine neue Geige. Als Vogel sah, sie meine Aufmerksamkeit erregte, erklärte er:

»Das haben wir halt nur Ihnen zu verdanken; es is von dem Geld gekooft, was Sie der Großmutter geschenkt haben. Ich habe fünf Mark dafür bezahlt; die vorige aber hat bloß zwanzig Groschen gekostet.«

»Also über noch einmal so teuer! Das ist allerdings ein großer Unterschied.«

»Ja; aber sie is ooch danach. Woll'n Sie sie vielleicht einmal hören?«

»Gern; nachher wenn Sie gegessen haben.«

»Ja, da mag der Franz mal was Ordentliches vorspielen.«

Der Knabe weigerte sich heut nicht. Er ging, als die letzte Kartoffel verzehrt wäre, um die Geige zu holen, gab sie mir in die Hand und fragte zutraulich:

»Is die nich viel besser als die vorige, he?«

»Es scheint so. Für fünf Mark kann man aber auch schon etwas verlangen. Das Aussehn ist gar nicht übel.«

»Sie sollen's gleich zu hören bekommen.«

Er nahm sie mir wieder aus der Hand und begann zu geigen. Schon nach wenigen Augenblicken bemerkte ich, daß er in der kurzen Zeit ganz bedeutende Fortschritte gemacht hatte, und regte ihn durch einige wohlberechnete Zurufe an, sein Bestes zu zeigen. Ich stand mit dem Rücken gegen die Tür, er aber so, daß er diese im Auge hatte. Da brach er plötzlich mitten im Spiel ab und fuhr, als ob er ein Gespenst erblickt habe, mitsamt der Violine hinter den Strumpfwirkerstuhl. Ich sah mich um. In der geöffneten Tür stand der Kapellmeister.

»Sie hatten vollständig recht«, rief er mir zu. »Unsre Reise wird sich reich lohnen!«

»Wer – – wer – – is denn das? Was – – was wollen denn Sie?« fragte der Hausherr in seinem ›geschmolzenen Tenor‹.

»Ihren Sohn will ich.«

»Meinen – – meinen Sohn? Meinen Jungen? Wozu denn?«

»Um einen Musiker aus ihm zu machen.«

»Das is gar nich nötig, denn das is er doch schon jetzt.«

»Nein. Jetzt ist er noch ein Stümper; aber er besitzt das Zeug dazu, ein tüchtiger Künstler zu werden.«

»Was – was wäre er itzt? Een – een Stümper?«

Der Junge steckte den Kopf hinter dem Arbeitsstuhl hervor, um sich den Mann einmal genauer zu betrachten, der es wagte, ihn einen Stümper zu nennen.

»Ja, ein Stümper«, wiederholte der Kapellmeister. »Durch einen tüchtigen Lehrer – – –«

»Lehrer?« unterbrach ihn der Vater. »Denken Sie etwa, daß er keenen tüchtigen Lehrer gehabt hat?«

»Ja, das denke ich.«

»Ach! So! Und wissen Sie denn, wer sein Lehrer gewesen is und noch heut is?«

»Sie!«

»Ich! Sehn Sie doch mal an! Das wissen Sie also, und dennoch behaupten Sie, daß er keenen guten Lehrer gehabt haben soll!«

»Das war keineswegs so gemeint, wie Sie es auszudeuten scheinen. Sie dürfen dieses Wort ja nicht übelnehmen, denn – –«

»Übelnehmen? I, wo denn gar! Es fällt mir gar nich ein, Ihnen was zu verübeln! Eenem Menschen, der von der Sache so wenig versteht wie Sie, kann kein Vernünftiger was übelnehmen. Sie reden wie der Lahme vom Tanzen und wie der Blinde von der Farbe! Da is der Herr Lingenist hier doch een ganz andrer Kerl! Der war ganz entzückt über meinen Jungen! Der Franz een Stümper und ich een schlechter Lehrer! Nee, so was geht noch weit über die Mützenprobe! Junge, gleich gehste mal her und spielst dem fremden Kerl das Stück vor, was du in der letzten Woche eingeübt hast! Komm nur her! Brauchst dich vor so eenem Neidhammel nich zu schämen!«

Franz schien derselben Ansicht zu sein. Sein Stolz und sein Zorn waren erwacht. Er wollte zeigen, was er gelernt hatte. Er trat hinter dem Stuhl hervor, setzte seine Geige an, warf auf den Kapellmeister einen verächtlichen Blick und begann zu spielen. Es war eine nicht leichte Übung in Es-Dur von Czerny oder Clementi. Ich kannte sie nicht, und ich gestehe gern, daß es mir wohl nicht gelungen wäre, sie ganz fehlerfrei vom Blatt zu spielen. Er hatte ein sehr schnelles Tempo angenommen; die Töne quollen nur so unter den Fingern der linken Hand hervor. Es war klar, daß er grad durch diese Schnelligkeit Eindruck machen wollte. Als er fertig war, wendete sein Vater sich in sehr zuversichtlichem Ton an den Kapellmeister:

»Na, haben Sie's gehört! Das hat er von mir, von seinem Vater und Lehrer!«

»Spielen Sie das Übungsstück auch?« fragte der Dresdener Künstler.

»Nee. Für mich is es freilich viel zu schwer. Ich bin nur Cellist; aber Unterricht kann man ooch geben, ohne een Virtuos zu sein!«

»Das ist richtig; aber der Unterricht ist dann auch darnach. Man muß dem Schüler zeigen können, wie es gemacht werden soll.«

»Na, da pfeifen Sie doch mal, Sie Klugpfeifer, Sie! Sie halten mich also noch immer für keenen guten Lehrer und den Jungen für eenen Stümper?«

»Ja.«

Der Strumpfwirker war jetzt ein ganz andrer Mann geworden. Von seinem sonst so bescheidnen, ja verschämten und furchtsamen Auftreten war nicht eine Spur mehr vorhanden. Die vermeintliche Kränkung hatte ihn in Harnisch gebracht. Er riß seinem Sohn die Geige und den Bogen aus der Hand und hielt beides dem Kapellmeister hin:

»Da, da, machen Sie's doch besser! Ich will doch sehn, ob Ihre Kunst ooch so groß is, wie Ihr Mund, den Sie über mich und meinen Jungen offreißen! Also los!«

Ja, er fing an, der Kapellmeister, aber wie! Nach einigen kräftigen Bogenstrichen begann er eins jener prickelnden Meisterstücke, an denen unser heutiges Künstlertum so reich ist. Was soll ich es beschreiben! Vogel fuhr bei den ersten Klängen förmlich vor Schreck zurück, während das Stück auf seinen Sohn grad die entgegengesetzte Wirkung ausübte. Der glitt näher und näher und staunte den Spieler mit weit geöffneten Augen an. Dann stieg er auf den Sitz des Arbeitsstuhls, um die Finger und Bogenbewegungen genauer beobachten zu können. Seine Augen strahlten heller und heller; seine Wangen färbten sich röter und röter; er war begeistert und entzückt. Als das Stück zu Ende war, faltete er die Hände und sagte:

»Das – das möcht ich ooch können! Das – – das muß ich ooch so lernen, Vater!«

»Nun«, fragte der Kapellmeister den alten Vogel lächelnd, »kann ich ebensogut spielen, wie ich den Mund aufzureißen verstehe?«

»Das – – das – – das war ja schrecklich schön, geradezu fürchterlich schön!«

»Sie sind also zufrieden mit mir?«

»Fragen Sie doch nich so! Wer's so kann, wie Sie, der braucht nischt mehr zu lernen!«

»Da irren Sie sich! Ich habe noch viel zu lernen und übe mich täglich. Aber nun will ich Ihnen auch zeigen, wie die Übung gespielt werden muß, die Sie Ihren Sohn gelehrt haben. Passen Sie auf!«

Das klang nun freilich ganz anders! Der Junge hatte vorhin die Töne nur geschickt und geschmeidig herausgeworfen; jetzt aber kam der musikalische Gedanke und dessen Durchführung in allen ihren Abstufungen zu einer klaren, reizvollen Geltung.

Die Zuhörer blieben zuerst vor Staunen sprachlos. Dann jubelte der Junge:

»Vater, du kannst nischt, und ich kann ooch nischt; aber ich muß es lernen!«

»Dazu gehört ein tüchtiger Lehrer«, bemerkte der Kapellmeister.

»Aber den gibt's hier nich!«

»So komm mit mir! Ich will dir Unterricht geben.«

»Wohin denn?«

»Nach Dresden.«

»Nee, nee, das geb ich nich zu! Das is zu weit!« fiel der Vater ein.

»Ja, ich geb's ooch nich zu!« stimmte die Mutter bei. »Der Junge is nich Ihrer, sondern unser!«

»Er soll auch der Ihrige bleiben! Aber er wird bei mir ein berühmter Mann werden!«

»Wenn er mit fort soll, dann lieber nich! Wer sind Sie denn eegentlich, daß Sie so mir nischt, dir nischt hierher kommen und uns den Jungen nehmen wollen?«

»Dieser Herr ist Königlicher Kapellmeister in der Residenz«, erklärte ich. »Durch ihn wird nicht nur Ihr Sohn, sondern Ihre ganze Familie glücklich werden.«

»Königlicher – – Kapell – – meister?« murmelte die Großmutter. »Das is een großes Tier! Na, Tochter und Schwiegersohn, überlegt's euch ordentlich, bevor ihr den Herrn fortweist! Ich wollt erst ooch nischt davon wissen, daß der Junge fort soll; aber wenn er gar so een Talent hat, und wenn sich solche Leute seiner annehmen wollen, da wär's am Ende doch nicht recht, wenn wir ihn derheeme behielten.«

»Red doch nich!« widersprach Vogel. »Du gibst ihn doch selber ooch nich her! Hier bei uns verdient er sein Geld. Wenn's ooch nur een paar Pfennige sind, so können wir's doch gebrauchen. Dort aber müßt er viele Jahre Lehrjunge sein und verdiente keenen Pfennig; ja, wir müßten ihm sogar noch alles schaffen, was er braucht, und in Dresden is das viel teurer als hier bei uns.«

»Diese Sorge sollen Sie sich nicht machen«, entgegnete der Kapellmeister, »ich bin bereit, sie Ihnen abzunehmen, falls Sie mir Ihren Sohn anvertrauen.«

»Ohne daß wir's nachher zu bezahlen brauchen?«

»Ja.«

»Kleeder, Wäsche, Wohnung, Essen und Trinken?«

»Alles!«

»Und wie lang müßt er bei Ihnen bleiben?«

»Darüber hätten wir uns zu vereinbaren.«

»Und wie lang dauert's, bis er sich was verdient?«

»Ich bin bereit, ihm nach drei Monaten schon ein kleines Gehalt auszuzahlen.«

»Wieviel?«

»Je nach den Fortschritten, die er macht. Sagen wir einmal, dreißig Mark für den Monat in der ersten Zeit, nach abermals drei Monaten fünfzig.«

»Dreißig Mark! Und nachher gar schon fufzig! Hast's gehört, Frau?«

»Ja; aber ich will nich!«

»Bedenk aber doch, das schöne Geld!«

»Wenn ooch! Ich mag nich! Der Junge bleibt da; ich geb ihn eemal nich her! Hört, Kinder, der Franz soll fort! Was meent ihr dazu?«

»Nee, nee, nee!« antworteten die Kleinen heulend.

»Da haben Sie's! Er darf nich fort. Die Kleenen geben ihn ooch nich her. Es ist besser, wenn er in der Heimat bleibt.«

»Nein, es ist nicht besser, weder für ihn noch für Sie. Er kann Sie später unterstützen; Sie können wohlhabende Leute werden!«

»Ja, aber ob's wahr is!«

»Und er kann Musikdirektor werden.«

»Das sagen Sie nur bloß.«

»Oder Kapellmeister.«

»Hören Sie, machen Sie uns das nich gar so lustig her! Es kommt doch später anders, als man heute denkt. Ich geb ihn nich her; er bleibt da; er geht nich mit.«

Man merkte, daß die Frau am meisten dagegen war. Der Mann und die Großmutter waren schon halb gewonnen. Die älteste Tochter hatte bis jetzt kein Wort dazu gesagt; nun begann auch sie, ihrer Mutter zuzureden, doch vergeblich; diese stemmte sich mit aller Kraft dagegen, den Sohn herzugeben.

Da kam mir ein Gedanke. Wir wollten nach Bad Ottenstein. Dort gab es Konzert. Diese Leute hier hatten wohl noch kein eigentliches Konzert gehört und keinen Kapellmeister dirigieren sehn. Wie, wenn wir sie mitnahmen? Wenn sie den Leiter mit dem Taktstock sahen und sich sagten, daß aus ihrem Sohn auch so ein großer Geist werden solle, dann gelang es uns vielleicht, ihn aus den mütterlichen Banden loszubekommen. Ich beschwichtigte also:

»Überlegen Sie sich den Vorschlag des Herrn Kapellmeisters nur in Ruhe! Wir haben ja Zeit. Ich wollte für heut einen andern Vorschlag machen, lieber Vogel. Haben Sie schon einmal so ein richtiges Cellosolo mit Orchesterbegleitung gehört?«

»Nee, noch nich«, antwortete er. »Ich hätte freilich gern mal so was Ordentliches gehört; aber's Geld gibt's nich her. Man müßte in die Stadt gehn und dort een Konzert bezahlen. Das is für Unsereenen aber viel zu teuer.«

»So will ich Ihnen die Gelegenheit dazu geben. Wir wollen morgen nach Ottenstein, da spielt die Badekapelle. Haben Sie Lust, mitzukommen, wenn wir die Fahrt und alle Unkosten für Sie bestreiten?«

»Warum nich? Von Herzen gern.«

»So brauchen wir zwei Wagen, denn Franz und Ihre Frau sollen auch mit, und wenn Martha Lust hat, darf sie auch mitfahren. Die Großmutter wird inzwischen gern bei den Kleinen bleiben.«

Hei! War das eine Freude, die ich da anrichtete! Ins Bad, ins Konzert! Nicht zu Fuß, sondern zu Wagen! Und mit so vornehmen Herren! Das waren für diese armen Leute vier höchst triftige Gründe, aus einem Entzücken in das andere zu fallen. Die Beteiligten flossen von Freude und Dankbarkeit über, und als wir gingen und Vogel uns hinausbegleitete, hörte ich seine Frau hinter ihm zu ihrer Mutter sagen:

»Der Herr Lingenist is doch der Gescheiteste und Guteste. Der fährt uns gar noch zum Konzert!« –

Am nächsten Tag fuhren wir nach dem Mittagessen nach Schwarzenberg und Bad Ottenstein hinüber. Professor Vitzliputzli war auch mit bei der Gesellschaft. Den Kapellmeister hatte ich gebeten, über seine Pläne mit dem Knaben vorläufig zu schweigen, um seine Eltern, besonders aber die Mutter, nicht kopfscheu zu machen.

Wie stolz blickten diese Leute um sich! In jedem ihrer Blicke lag, wenn jemand uns begegnete, die Aufforderung: »Schaut uns doch mal an! Seht ihr denn nicht, was für vornehme Leute wir sind? Wir fahren ins Bad und gar noch zum Konzert!« In Ottenstein ging der Kapellmeister gleich, seinen Bekannten aufzusuchen. Er kehrte unverrichtetersache zurück, war dabei aber ganz vergnügt. Den Grund davon sah ich ein, als er meldete:

»Mein früherer Schüler ist mit seiner Musikkapelle nach Zwönitz; ich kann ihn also leider nicht sprechen. Dafür aber spielt heute eine Militärkapelle aus Zwickau hier.«

Die Soldaten in ihren Waffenröcken machten jedenfalls einen noch größeren Eindruck auf unsre Gefährten; das dachte er sich, und das dachte ich mir auch. Wir nahmen dicht bei der Musik Platz. Der Raum füllte sich nach und nach mit Besuchern, und dann stellten sich die Hoboisten ein. Wie schauten die Glieder der Vogelschen Familie, als sie so viele Spielleute mit blanken Knöpfen, goldenen Tressen und sonstigen Auszeichnungen sahen! Und nun gar, als der Stabstrompeter in seinem Festschmuck kam!

»Wer is denn das?« fragte die Frau.

»Das muß een großer Offizier sein!«

»Es ist der Musikdirektor«, antwortete ich.

»Der Musikdirektor? Ojemine! Is das aber een feiner und goldener! Wie is der denn das geworden?«

»Wahrscheinlich ist er nach Dresden gegangen, um tüchtig Geige oder ein andres Instrument spielen oder blasen zu lernen, hat das Konservatorium besucht und ist dann in eine Militärkapelle eingetreten.«

»Könnt unser Franz das Konservatorium ooch besuchen, wenn er in Dresden wäre?«

»Ja.«

»Hm! Wie weit is denn eegentlich Dresden von uns?«

»Wenn man früh abfährt, ist man mittags dort.«

Der Stabstrompeter hob den Taktstock; die erste Nummer begann. Ich beobachtete meine Leute. Franz schwamm in Wonne; Martha lauschte wie atemlos und sah sehr oft zu mir herüber, wohl, um an meinem Gesicht zu erkennen, ob das Stück mir auch gefalle. Ihr Vater hatte zwar die Miene eines Kenners angenommen, doch wurde diese immer weniger kritisch, und endlich gab er sich dem Eindruck, den die Musik auf ihn machte, ganz ohne Widerstreben hin. Auch die Mutter besaß nicht die Kraft, diesen Tönen, diesen Tressen und Knöpfen und diesem zweierlei Tuch zu widerstehn; sie war entzückt; das sah man ihr deutlich an. Ihre Augen gingen zwischen dem Dirigenten und ihrem Sohn hin und her. Sie mochte sich wohl sagen, wie dieser sich in der Uniform eines Stabstrompeters ausnehmen würde. Als das Stück zu Ende war, rief sie aus:

»Nee, so was! Das is doch eenzig in der Welt!«

»Was denn?« fragte ihr Mann. »Wir derheeme machen doch ooch Musik!«

»Ach, wer redet denn von Musik?«

»Na, von was denn?«

»Der Respekt, der großartige Respekt!«

»Wo denn?«

»Den die andern vor dem Obersten haben. Die hängen mit ihren Oogen nur so an seinem Gesicht, und wie er winkt, so geht's. Wenn er die Arme breet macht und bloß mit den Fingern wedelt, so blasen sie duhsemang und immer duhsemanger; aber wenn er die Arme in die Luft wirft, so geht's gleich wie mit allen Teufeln los. Es is doch schön, wenn een Mensch so was Ordentliches zu bedeuten hat! Nich?«

»Ja, aber wenn ich wollte und so eene Kapelle hätt', könnt ich's ooch.«

»Du? Geh weg, Alter! Das tät dir gar nicht stehn! Aber unser Junge, der Franz! Und so eene Uniform dazu! Herr Lingenist, also, wenn man früh fortfährt, da is man zu Mittag schon in Dresden?«

»Ja«, antwortete ich mit innerm Vergnügen.

»Und könnt so een junger Musikant ooch mal heeme fahren?«

»Natürlich.«

»Oder is es vielleicht gar erloobt, ihn mal in Dresden zu besuchen?«

»Auch das! Ganz wie Sie wollen!«

Von jetzt an wurde sie nachdenklicher; sie begann im stillen mit ihrem gestern ausgesprochenen Entschluß zu kämpfen. Diese Nachdenklichkeit steigerte sich von Stück zu Stück. Nach der ersten Abteilung des Spielplans wendete sie sich wieder an mich:

»Meenen Sie, daß der Franz in Dresden ordentlich zu essen kriegte?«

»Besser, viel besser als zu Haus!«

»Und früh seinen warmen Kaffee?«

»Das können Sie sich doch denken. Und in der Residenz gibt's keinen solchen Blümchenkaffee mit Zichorie wie bei Ihnen.«

In der zweiten Abteilung war ein Pistonsolo eingeschaltet, das der Stabstrompeter selber blies. Er erntete großen Beifall. Alles klatschte, und er mußte das Stück wiederholen. Darauf fragte sie mich:

»Wie heeßt denn so eene Trompete, off der er so scheene geblasen hat?«

»Posthorn.«

»Was denken Sie, könnt' unser Franz das Ding nich ooch lernen?«

»Wenn er Lust dazu hat, bekommt er in Dresden die beste Gelegenheit dazu.«

»Hören Sie, Herr Lingenist, es scheint in Dresden doch etwas anders zu sein, als ich mir vorher dachte.«

»Anders ist es allerdings, ganz und gar anders. Wenn Sie einmal hinkämen, würden Sie sich wundern.«

»Was kostet's denn off der Eisenbahn?«

»Fünf Mark hin und zurück in dritter Klasse.«

»Fünf Mark, also eenen Taler und zwanzig Neugroschen! Um Gotteswillen!«

»O, das könnten Sie dann schon erschwingen, da ja Ihr Sohn bald gut verdienen würde und Ihnen das Reisegeld schicken oder vergüten könnte.«

Als die zweite Pause anbrach, war sie in ihrem Innern schon so weit, sich bei mir zu erkundigen:

»Also in schlechte Gesellschaft käme er dort nich?«

»Nein, er hätte auch gar keine Zeit dazu. Tagsüber hätte er Unterricht, und des Abends würde er sich an Konzerten beteiligen, die dort als die feinsten bekannt sind.«

»Da kommen wohl vornehme Leute hin?«

»Ja, Offiziere, zuweilen sogar der König und die Königin.«

»O jemine, der König und die Königin! Die würde unser Franz also zu sehn kriegen?«

»Gewiß.«

»Was für een Glück und für eene Auszeichnung! Ich hab sie noch net gesehn, solange ich schon lebe, und der Junge kriegte sie sofort zu Gesicht! – Mann, hast's gehört?«

»Ja«, entgegnete er, der sich bis jetzt nicht geäußert hatte. Ich bemerkte, daß sein Gesicht einen entschlossenen Ausdruck angenommen harte.

»Und was sagste dazu?« fragte sie.

»Was is da zu sagen! Er geht eben hin!«

»Nach Dresden?«

»Ja. Ich werde doch keen solcher Unmensch sein, ihn zurückzuhalten, wenn so was Großes aus ihm gemacht werden soll. Das is ja eene Ehre, die dem ganzen Dorf widerfährt.«

»Eene Ehre!« wiederholte sie halblaut, schon jetzt im Vorgefühl dieser Ehre schwimmend.

»Also du hast nichts dagegen?«

»Nee. Und du?«

»Ich ooch nich. Aber ich will ihn nich ganz alleene fort gehn lassen!«

»Ganz alleene? Wie meenste das?«

»Es muß jemand aus der Familie bei ihm sein; anders tu ich's nich! Er is noch viel zu jung, um in die weite Welt zu gehn. Er muß jemand von uns bei sich haben. Darauf bestehe ich; sonst geb ich ihn nich her.«

»Aber wer soll denn mit? Etwa du?«

»Nee, ich kann doch unmöglich fort!«

»Ich ooch nich. Oder deine Mutter?«

»Wo denkste hin! Die is viel zu alt dazu.«

»Na, wer denn sonst?«

»Ich will mir's überlegen.«

Und am Schluß des Konzerts, als der Beifall gar kein Ende nehmen wollte, klatschte sie auch mit und sagte dann zu mir:

»So was Großartiges habe ich noch nich gehört! – Was sagen Sie zu unsrer Martha, Herr Lingenist.«

»Sie scheint ein gutes braves Mädchen zu sein.«

»Das is sie ooch; darauf können Sie sich verlassen! Sie is schon in Dienst gewesen und hat gutes Lob davongetragen. Ihre Herrschaft wollte sie gar nicht fortlassen; sie mußte aber, meiner Krankheit wegen. Jetzt, wo ich wieder gesund bin, kann ich sie ooch wieder entbehren. Täten Sie sie mit nach Dresden nehmen?«

»Hm. Um dies beantworten zu können, muß ich vorher wissen, was sie dort soll.«

»Bei ihrem Bruder soll sie sein.«

»Bestehn Sie wirklich darauf?«

»Ja. Alleene laß ich ihn off keenen Fall fort. Wenn die Martha nich bei ihm sein kann, da bleibt er derheeme.«

Ich sah den Kapellmeister fragend an. Er bemerkte der guten Frau:

»Sie wissen nicht, daß Sie damit mir und Ihrem Sohn die Angelegenheit erschweren. Er wird bei mir wohnen und wie ein Familienglied behandelt. Als was soll dann seine Schwester bei uns sein?«

»Nun, eben als seine Schwester.«

»Die auch ihre freie Wohnung, Kost und so weiter beansprucht?«

»Hm, ja, das is nu so eene Sache. Was Sie da sagen, das kann ich freilich nich verlangen. Könnte sie denn nich als Dienstmädchen bei Ihnen eintreten?«

»Das allerdings; aber wir haben ein Mädchen, das schon jahrelang bei uns ist; sie will nicht fort, und wir sind mit ihr sehr zufrieden. Na, vielleicht läßt sich ein Ausweg finden. Also Sie geben mir den Jungen?«

»Ja; aber eene Bedingung habe ich noch!«

»Noch eine? Welche?«

»Daß ich und mein Mann ihn begleiten dürfen. Wir müssen uns doch überzeugen, daß er ordentlich untergebracht wird.«

»Dagegen habe ich nichts; Sie fahren also mit, und zwar morgen schon.«

»Morgen?« fragte sie erschrocken. »So rasch? Warum denn das? Können wir ihn denn nich noch een paar Wochen behalten?«

»Das hätte keinen Zweck und wäre ganz im Gegenteil eine nicht zu entschuldigende Zeitverschwendung. Da ich selber hier bin, ist es besser, ich nehme ihn mit.«

»Aber wir haben uns doch gar nich darauf eingerichtet.«

»Es wird trotzdem gehn. Das, was die Kinder mitzunehmen haben, wird nicht so bedeutend sein, daß es längerer Vorbereitungen bedarf. Sie fahren morgen mit. Sind Sie damit einverstanden, so bezahle ich Ihnen die Fahrkarten und alles, was Sie in Dresden brauchen.«

»Das wäre freilich hübsch, aber es geht doch nich so rasch. Von meiner Schnappenjacke sind hinten die Bänder los.«

»Die nähen Sie heut abend an.«

»Und meine Schuhe müssen gewichst werden!«

»Das ist in zehn Minuten geschehn.«

»Da kommen Sie schöne an! Die müssen sechs- oder achtmal gewichst werden, ehe sie Glanz kriegen, weil sie jahrelang nur immer mit Fischtran eingeschmiert worden sind. Und mit meinem Mann seinen Stiefeln is es ebenso. Ungewichstes Schuhwerk aber ziehn wir off keenen Fall an, denn wir wissen ooch, was sich schickt. Was würden die Menschen in Dresden sagen, wenn wir nur geschmiert dort rumliefen! Nee, das geht nich, das geht partuh nich an! Wenn een Junge den König und die Königin zu sehn bekommt, da müssen seine Eltern ooch nobel sein!«

»Sie werden dennoch mit Ihren Vorbereitungen noch heut abend fertig werden. Wir helfen sämtlich mit.«

Die guten Leute förderten noch verschiedne Einwände, die meist zum Lachen waren, ans Tageslicht; alle wurden ihnen aber kräftig widerlegt, wobei uns die Tochter helfend zur Seite stand. Diese strahlte vor Vergnügen darüber, daß sie mit nach der Landeshauptstadt reisen und dort bleiben sollte.

Als wir endlich zur Einstimmigkeit gelangt waren, ließ der Kapellmeister Papier, Tinte und Feder bringen, um gleich hier an Ort und Stelle die beiden Stücke des Vertrags anzufertigen. Es wurden drei Lehrjahre festgesetzt, während deren der Lehrling von ihm alles, was zum Leben nötig war, ebenso unentgeltlich wie den Unterricht bekommen sollte. Dann hatte er noch drei Jahre in gut besoldeter Stellung zu verbleiben, worauf er Herr seiner weitern Entschlüsse wurde. Zur Sicherung des Kapellmeisters wurden tausend Mark Reugeld festgesetzt. Die Parteien unterzeichneten, dann der Professor und ich als Zeugen.

So war also das, was ich für so schwer gehalten hatte, doch gelungen. Wir fuhren nach Hause, nachdem es schon dunkel geworden war. Vogels saßen mit ihrem Jungen und dem Kapellmeister in dem einen Wagen; sie wollten sich jetzt keine Minute von ihrem Sohn trennen. In dem andern saß ich mit der Tochter im Rücksitz, vor uns der Professor neben dem Fuhrmann. Es wurde nur wenig oder fast gar nicht gesprochen. Da suchte plötzlich Martha mit ihrer Hand nach der meinigen, zog sie an den Mund, küßte sie und ließ sie dann so rasch los, als ob sie über ihr Beginnen erschrocken sei. Dann hob sie ihr Gesicht zu mir auf und sagte, wohl um sich zu entschuldigen:

»Das haben wir Ihnen zu verdanken. Sie sind so gut.« –

Am nächsten Morgen ging es fort. Das ganze Dorf befand sich in Aufregung. Die Bewohner nahmen Abschied, als ob es fürs ganze Leben sei. Die Scheidenden machten ihrer gedrückten Stimmung durch Tränen Luft, der Kapellmeister aber winkte und nickte mir fröhlich zu. Er hatte, was er haben wollte.

Was machten dann, als wir in der Hauptstadt ankamen, die guten Leute für Augen und Gesichter! Sie blieben an jedem Fenster stehn, wollten in jede Droschke laufen und sich von jedem Pferdebahnwagen überfahren lassen. Dabei gab es uns Spaß, wie sie, die ihre altmodische Gebirgstracht trugen, die Augen aller Vorübergehenden auf sich zogen. Zwei Tage verbrachten sie in Dresden und kehrten dann, überwältigt von allem, was sie da gesehen hatten, in ihre Heimat zurück. Martha konnte nicht sofort als Dienstmädchen eintreten und wurde zunächst als Gast betrachtet.

*

3. Martha

Ich wohnte noch im Verlagshaus in der Dresdner Altstadt; die Wohnung des Kapellmeisters lag nur vier Straßen weit entfernt; dennoch bekamen wir uns wohl drei Wochen lang nicht zu sehn, denn ich war mit Arbeit ebenso überhäuft wie er, konnte keins seiner Konzerte besuchen und fand auch nicht die Zeit, einmal in seiner Wohnung nachzufragen. Da meldete mir eines Nachmittags der Redaktionsdiener eine Dame, die mit mir sprechen wollte:

»Alt?« fragte ich.

»Nein, jung. Vielleicht sechzehn Jahre.«

»Fein gekleidet?«

»Auch nicht, aber sauber.«

»Vielleicht angehende Schriftstellerin. Habe keine Zeit.«

»Wenn die Schriftstellerin ist, so müßte ich mich sehr irren. Sie sieht, obgleich sie sehr hübsch ist, aus, wie ein Gänschen vom Lande, das sich in seine besten Federn gekleidet hat.«

»So mag sie kommen!«

Es war Martha. Sie kam zwar einigermaßen verlegen, aber doch zutraulich zu mir an den Schreibtisch und gab mir die Hand:

»Grüß Gott, Herr Redakteur! Der Herr Kapellmeister weiß, daß ich zu Ihnen bin; aber wenn Sie keine Zeit haben, komme ich ein andermal.«

Sie sprach nicht ihre erzgebirgische Mundart, denn sie hatte bei ihrer früheren Herrschaft hochdeutsch sprechen gelernt.

»Für Sie habe ich immer Zeit«, antwortete ich. »Setzen Sie sich und sagen Sie mir, ob ich Ihnen irgendeinen Dienst erweisen kann!«

Sie nahm sehr bescheiden nur auf einer Ecke des Stuhls Platz, zog ein Papier aus der Tasche und meinte:

»Ja, ich habe eine Bitte, eine sehr große Bitte. Wollen Sie so gut sein und einmal dies lesen!«

Ich nahm das Papier. Man sah, daß es schon alt gewesen war, als darauf geschrieben wurde. Welch eine Schrift sah ich da! Sie war selbst für mich kaum zu enträtseln.

»Die Mutter hat's geschrieben«, entschuldigte sich das Mädchen. »Ich sollte es Ihnen gar nicht geben, weil so sehr viel Fehler darauf sind, die Mutter kann's aber nicht besser.«

Ich las:

An mayne Dochter Martha:
Wenn die Mussikandenjungen solgen Sbaaß mitt dir magen, den du nich austeen kanst und wen du darum vort willst und wen du da liewer zu dem Herr Linkennitzten möchst, so haewn Wir nikst dargegen. Er ißt ein kuter Mensch und gar nicht stolz und hat kayne Frau verheiyrat und kann ein Mägdchen brauchen waß keyn arbeidt macht und erlich ist. Ge also tzu ihn und sag ihn, daß tu nikst dargegen haßt. Daß schreipt dir deine Muhter, weil dein Vater nitcht. schreipen kann, den er hatt sich ein bössen Fingern geschnietten. Kürrschbaum blüht und Kraußens Kuh hatt ein Kalp bekomen, ißt gesund. Sei treu und erlig und grüß Deine Muhter.

Ein andrer hätte wahrscheinlich über diesen Brief gelacht; mir aber kam dieser Kampf mit der Rechtschreibung fast heilig vor. Die mehr als einfache Frau hatte ihn gewagt aus Liebe zu ihrer Tochter. Als ich jetzt einen kurzen Blick auf diese warf, sah ich, daß ihre Wangen hoch gerötet waren und ihre Augen ängstlich forschend an meinem Gesicht hingen. Der Inhalt dieses Briefs erklärte mir ihr Erröten. Sie hatte mir ihr Anliegen nicht mündlich vorgetragen, sondern mir das Schreiben gegeben, damit ich auf solche Weise erführe, worüber sie nicht reden mochte. Sie war von den Lehrlingen oder auch Musikern des Kapellmeisters belästigt worden und wollte darum nicht mehr dort bleiben, hatte aber nicht eher einen Schritt getan, ab bis ihre Eltern einverstanden waren. Sie wollte gern zu mir und war nun auf meine Entscheidung ängstlich gespannt. Diese konnte leider nicht nach ihrem Wunsch ausfallen; ich mußte mich aber einer umschreibenden Wendung bedienen:

»Liebes Kind, ich würde Ihre Bitte gern erfüllen, aber ich kann kein Mädchen bei mir anstellen; es gibt bei mir zu wenig zu tun.«

»Könnte ich nicht die überflüssige Zeit zum Nähen benutzen oder zu sonstigen Arbeiten?«

»Ja, aber ich kann doch keinen Dienstboten gebrauchen. Erstens habe ich keinen Raum dazu, und zweitens ist meine Wohnung und Stellung hier nur vorübergehend. Sobald ein Nachfolger für meine Redaktionstätigkeit gefunden ist, geh ich wieder auf Reisen. Sie wären also schnell abermals stellungslos.«

Sie sah niedergeschlagen vor sich hin. »Aber beim Kapellmeister möchte ich auch nicht bleiben!«

»Das sollen Sie auch nicht. Sie sagten mir, daß er Sie zu mir geschickt habe, also weiß er, worum es sich handelt. Bleiben Sie nur noch einige Tage dort; ich werde mich sofort nach einer geeigneten Stellung für Sie umsehn und Sie dann benachrichtigen.«

Mit diesem Bescheid mußte ich sie entlassen. Ich erfuhr von dem Kapellmeister, daß seine Leute nicht etwa ungezogen gegen sie gewesen waren, aber großes Wohlgefallen an dem schönen Mädchen gefunden und es mit allen möglichen und unmöglichen Ritterdiensten überhäuft hatten. Die Anbetung dieser halbwüchsigen Virtuosen in spe hatte ihr aber nicht behagt; darum wollte sie fort.

Nachdem sie mich verlassen hatte, trat ich meinen Rundgang durch die Geschäftsräume an und sah dabei, daß Martha draußen vor der Tür mit unserm Oberdrucker sprach. Das ging mich nichts an, und ich beachtete es nicht. Am nächsten Vormittag hatte ich den Setzersaal zu besuchen und schritt dann durch die Druckerei. Als ich den obern Saal betrat, erblickte ich zu meinem Erstaunen – Martha, die als Punktiererin auf den Stufen der großen Buntdruckmaschine stand. Sie war halb von mir abgewendet und sah mich nicht.

Ich erschrak beinahe. Dieses brave und so leicht eingeschüchterte Mädchen hier unter Arbeitern und Arbeiterinnen, die zwar sittlich völlig unbeanstandet waren, aber es doch in Beziehung auf Umgang und Sprache unter sich nicht allzu genau nahmen. Sie konnte nur vom Oberdrucker eingestellt worden sein, und zwar gestern, als er mit ihr vor der Tür sprach. Er befand sich draußen in der Stereotypie, und ich ging, um mit ihm zu sprechen. Er kam gleich auf mich zu und fing von selbst an:

»Haben Sie die neue Punktiererin gesehn, Herr May? Ich glaube, das ist eine Arbeiterin, die wir nicht plötzlich fortzujagen brauchen wie die vorige.«

»Wieso?«

»Ein braves Mädchen, sittsam und arbeitswillig!«

»Wie sind Sie denn zu ihr gekommen?«

»Ich sah sie aus der Tür kommen und dachte, sie hätte hier nach Arbeit gesucht. Deshalb bot ich ihr die Stelle an.«

»Sagte sie schnell zu?«

»O nein. Ich mußte sie in die Druckerei führen und ihr alles zeigen. Dann handelte es sich um eine Wohnung, die sie auch gefunden hat.«

»Wo?«

»Bei mir. Sie gefiel mir, da habe ich zu meiner Frau geschickt, die ihren Narren auch sogleich an ihr gefressen und ihr das kleine Stübchen gegeben hat. Sie ist aus dem Gebirg und hat einen Bruder hier, der Musiker wird und das Konservatorium besuchen soll, stammt also wahrscheinlich aus einer braven Familie.«

»Hat sie Ihnen nicht erzählt, was oder wen sie im Haus gesucht hat?«

»Nein, ich habe sie nicht gefragt.«

»So will ich Ihnen sagen, daß ich sie und auch ihren Bruder kenne. Ich wünsche, daß sie rücksichtsvoll behandelt wird und die unter den Arbeitern gebräuchlichen Redensarten nicht zu hören bekommt. Sie verstehn mich. Wenn sie irgend etwas brauchen oder wünschen sollte, so sagen Sie es mir!«

Damit war die Sache für einstweilen abgemacht. Ich konnte mir freilich nicht erklären, was Martha veranlaßt hatte, auf das Angebot des Oberdruckers einzugehn, da ich ihr doch versprochen hatte, mich nach einem passenden Unterkommen für sie umzusehn. Nun hatte sie allerdings eine saubere Arbeit, wohnte bei recht ehrbaren Leuten und verdiente bis vierundzwanzig Mark in der Woche. Ich hörte, daß sie dieses Geld nur zu wirklich Notwendigem verwendete, und freute mich darüber.

Im übrigen tat ich so, als ob ich sie noch gar nicht bemerkt hätte. Doch sah ich gar wohl, daß sie sich, sooft ich den Maschinensaal betrat, in Verlegenheit befand und mir mit dem Blick überallhin folgte.

Endlich gab es einmal ein zufälliges Begegnen, dem nicht auszuweichen war. Sie wollte zwar mit einem leisen Gruß an mir vorüber, ich blieb aber stehn und redete sie an:

»Sind Sie mit Ihrer Stellung zufrieden, Martha?«

»Ja«, hauchte sie.

»Verursacht die mechanische Arbeit Ihnen keine Anstrengung?«

»O nein, sie ist sehr leicht.«

»Sehn Sie zuweilen Ihren Bruder?«

»Täglich. Er besucht mich regelmäßig eine Stunde in meiner Wohnung.«

»Gefällt es Ihnen dort?«

»Sehr! Die Leute haben keine Kinder und halten mich wie ihre Tochter.«

»Das ist mir lieb. Aber wie sind Sie denn eigentlich auf den Gedanken gekommen, in einer Druckerei zu arbeiten?«

»Es gibt da guten Verdienst; davon kann ich den Eltern schicken. Sie haben schon zwanzig Mark bekommen und hätten noch mehr erhalten, wenn ich nicht so viel anschaffen müßte.«

»Das ist freilich wahr. Das Päckchen, das Sie mit nach hier brachten, war reichlich klein. Also der Verdienst ist Ihnen recht; aber ob auch alles andre? Haben Sie unter Ihren Mitarbeiterinnen Bekanntschaften geschlossen?«

»Nein, das tu ich nicht; es gefällt mir auch keine einzige. Ich habe meinen Bruder und meine Arbeit, brauche also keine Freundin.«

»Bleiben Sie bei dieser Meinung; es ist die richtige! Aber Sie hätten doch eigentlich auf mein Versprechen etwas geben sollen. Ich hätte Sie in ein gutes Haus, aber nicht in eine Fabrik, eine Druckerei gebracht. Weshalb haben Sie nicht gewartet?«

Sie errötete und schwieg.

»Oder wenigstens mich vorher, ehe Sie ja sagten, um Rat gefragt?«

»Weil – – weil – – –«

»Nun, weil – –? Sprechen Sie doch aus!«

»Weil Sie mir abgeraten, es mir nicht erlaubt hätten«, gestand sie ein.

»Wenn Sie das wußten, warum haben Sie da diese Arbeit dennoch angenommen?«

»Weil – weil – – –« Sie stockte abermals.

»Haben Sie kein Vertrauen zu mir? Ich denke, daß Sie mir die Wahrheit sagen können. Oder nicht?«

»Ja.«

»Nun also! Warum sind Sie dennoch hier eingetreten?«

»Weil – – weil – –«, antwortete sie so leise, daß ich es kaum hören konnte, »weil Sie mich nicht als Dienstmädchen nehmen konnten.«

Ich schwieg einige Augenblicke, um mir diese ihre Worte zu überlegen. Da richtete sie sich aus ihrer zaghaften Stellung in die Höhe und fügte schnell hinzu:

»Sie sind so gut mit uns gewesen, und wir haben Ihnen alles zu verdanken. Wenn ich nicht bei meinem Bruder sein kann, will ich da sein dürfen, wo Sie sind!«

Darauf drehte sie sich um und eilte davon. Also aus Dankbarkeit gegen mich! Das rührte mich. Ich nahm mir vor, sie in ihrer jetzigen Stellung zu lassen und ihr diese so leicht und lohnend als möglich zu machen. Meine zwei Zimmer wurden von einer Arbeiterin in Ordnung gehalten. Da ich mit ihr unzufrieden war, lohnte ich sie also ab und übertrug diese Arbeit Martha, die ganz glücklich darüber war. Sobald ich des Morgens ins Geschäftszimmer gegangen war, kam sie, um ihres Amts zu walten, was regelmäßig ein Stündchen Zeit in Anspruch nahm. Kehrte ich dann mittags zurück, so fand ich immer irgend etwas, irgendeine Kleinigkeit vor, die den Zweck hatte, mich zu erfreuen. War es eine Feldblume, ein hübsches, unterwegs abgebrochenes Blatt oder irgendeine kleine Veränderung im Zimmer, ich ersah aus allen diesen Dingen, welch einen zarten Sinn, welch ein zartes Gefühl diese arme, ungebildete Strumpfwirkerstochter besaß. Es wurde kein Wort darüber gesprochen; sie wußte aber dennoch, daß ihr Zweck, mich zu erfreuen, in Erfüllung ging.

Die Gemahlin des Besitzers unsres Hauses, eine sehr kluge gütige Dame, nahm sich des umfangreichen Geschäfts beinah ebenso an wie er selber. Sie befand sich sehr oft in den Arbeitssälen, und da war die neue Punktiererin ihr bald aufgefallen. Sie beobachtete sie und sprach mit mir darüber. Infolgedessen wuchs ihre Teilnahme für das brave Mädchen, und sie erbot sich, es in die Familie aufzunehmen. Was ich aber nicht erwartet hatte, das geschah: Martha nahm diese Stellung nicht an.

So vergingen noch Monate, und endlich fand sich ein Nachfolger für den verstorbenen Redakteur. Ich war sehr froh, denn ich wollte so gern wieder fort, hinüber nach Brasilien. Der neue Herr trat an, und ich blieb noch einige Tage, um ihm das Einarbeiten zu erleichtern. Der Verlagsinhaber erwies sich freigebig gegen mich, denn er zahlte mir kurz vor meinem Scheiden eine ganz unerwartete Sondervergütung, und seine Frau erklärte mir, daß die zwei Zimmer, die ich bewohnt hatte, nicht bezogen würden und mir nach meiner Rückkehr wieder zur Verfügung stünden. Ich mußte ihr versprechen, von diesem Anerbieten Gebrauch zu machen.

Zwei Tage vor meiner Abreise durchschritt ich die Druckersäle zum letztenmal. Ich sah, daß Martha zu ihrem Maschinenmeister etwas sagte, worauf er die Transmission aushängte und die Maschine halten ließ. Sie stieg die zwei Stufen herab und kam auf mich zu. Sie hatte mit mir zu reden. Und das mußte mich verwundern, da wir sonst gar nicht miteinander sprachen.

»Sie gehn übermorgen fort, Herr May?« fragte sie.

»Ja.«

»Darf ich erfahren, wohin?«

»Über den Atlantischen Ozean.«

»Da kommen Sie wohl nicht gleich wieder?«

»Ein Jahr kann es wohl dauern.«

»Die gnädige Frau will Ihre Zimmer für Sie bereit halten. Werden Sie dann wieder hier wohnen?«

»Wahrscheinlich. Und Sie? Wo werden Sie nach einem Jahr sein?«

»Noch hier.«

»Als Punktiererin?«

»Ja.«

»So nehmen Sie doch die Stellung an, die die gnädige Frau Ihnen angeboten hat.«

»Nein, sie gefällt mir nicht.«

Nach diesen bestimmt gesprochenen Worten stieg sie wieder auf ihre Maschine, die in Bewegung gesetzt wurde.

Während der nächsten Nacht konnte ich nicht schlafen; ich hatte viele Briefe zu schreiben und wurde damit erst gegen Morgen fertig. Es war zu spät, das Bett aufzusuchen, und so legte ich mich im Wohnzimmer angekleidet auf das Sofa und schlief bis über die Zeit hinaus, in der ich sonst ins Kontor zu gehn pflegte. Ich habe von meinen Reisen her einen sehr leisen Schlaf. Ein etwas stärkerer Lufthauch kann mich wecken. Da war es mir, als ob mir jemand leise über das Haar strich, einmal und mehrere Male, und dann legten sich zwei Lippen auf meinen Mund. Das konnte nicht Wirklichkeit, sondern das mußte Traum sein, sagte ich mir und behielt die Augen zu, um diesen sonderbaren Traum ja weiterzuträumen. Draußen vor dem Haus knarrte ein schwerer Lastwagen vorüber – ich schlug die Augen auf und sah vor mir, auf dem Tisch, einen mächtigen Feldblumenstrauß in der Vase stecken. Martha wußte, daß ich Feldblumen gern hatte. Sie war hier gewesen; sie hatte geglaubt, ich sei schon längst wach und nicht mehr im Zimmer; die Tür war, weil ich während der Nacht gearbeitet hatte, unverschlossen geblieben.

Ich stand auf und sah mir den Strauß von allen Seiten an; er gab mir zu denken. Martha hatte hier geweilt; daran konnte ich nicht zweifeln. Aber die Hand, die mir liebkosend über den Kopf gestrichen hatte, und dann der Kuß? War das nur Traum gewesen, oder – – – Unsinn! Ein so junges, schönes Wesen wird einem so ganz und gar poesielosen Prärieläufer und »Lingenisten« während des Schlafs einen Kuß geben! Es war ein dummer Traum!

Gegen Abend, als die Druckerei geschlossen wurde und Martha heimgehn wollte, rief ich sie zu mir herauf, um ihr die Aufwartung zu bezahlen. Sie streckte zwar die Hand nach dem Geld aus, zog sie aber zurück, als ob sie fürchte, daß die Silberstücke glühend gemacht seien.

»So nehmen Sie doch!« sagte ich.

»Ich kann nicht«, antwortete sie.

»Sie haben es doch am Schluß aller früheren Monate genommen!«

»Heut nicht, nein, heut nicht!«

»Sind Sie bei Ihrer beneidenswerten Gesundheit plötzlich nervös geworden? Sie sind ganz blaß!«

»Ja, der Kopf tut mir sehr weh.«

»Das ist mir leid, aber doch kein Grund, Ihren so wohlverdienten Lohn zurückzuweisen.«

»Ich mag ihn heute nicht. Bitte, legen Sie ihn hier auf den Tisch! Ich hole ihn mir morgen früh.«

»Wie Sie wollen. Aber Sie bringen mich in Verlegenheit, denn nun werden Sie höchstwahrscheinlich auch das nicht nehmen wollen, was ich außerdem für Sie habe und Ihnen zurücklassen wollte.«

»Wohl ein Geschenk, als Trinkgeld?«

»Nein! Sie sind mir keine Arbeiterin, keine gewöhnliche Aufwartung gewesen; Sie haben immer im stillen daran gedacht, mich zu erfreuen. Das ist Ihnen stets gelungen, und da wollte auch ich Ihnen eine kleine Freude machen und Ihnen ein Andenken, hören Sie, kein Geschenk, kein Trinkgeld, sondern ein Andenken zurücklassen.«

»Was ist's? Zeigen Sie! Was ist's?« fragte sie, indem ihre Wangen sich röteten.

»Eine Kleinigkeit, eine Blume nur. Sie haben mir so oft Feldblumen gebracht, die ich liebe; nun sollen Sie auch einmal vor mir eine haben.«

»Die nehme ich; die nehm ich gern. Ich werde sie aufheben und in Papier legen, daß kein Blättchen verlorengeht.«

»Das ist nicht nötig; die Blätter halten an dieser Blüte fest, wie in Metall gegossen. Schauen Sie!«

Ich entnahm eine Skabiose ans dem Felsengebirg dem Behälter, worin ich sie bereit gehalten hatte, und gab sie ihr. Sie stieß einen Ausruf der Bewunderung aus, als sie das seltsame Gebilde in die Hand nahm. Es glänzte wie in Silber gesetzte Kristalle.

»Herrlich! So etwas habe ich noch nie gesehn! Das ist aber doch keine Feldblume, keine natürliche Blume!«

»O doch, aber überzogen. Ich habe drüben im Yellowstone-Park, wo es Hunderte von heißen Quellen, Geisern und Vulkanen gibt, wo sich auch die Erde öffnet, um flüssiges, natürliches Glas kochen zu lassen, einige dieser Blumen gebrochen und in eine solche Öffnung gehalten; sie haben sich mit dem Schweiß des Glases überzogen und diese reizende Form und diese glänzenden Farben angenommen. Werden Sie diese Blume nehmen?«

»O wie gern! Ich danke Ihnen!«

Sie küßte mir vor Freude die Hand wie damals als wir auf der Rückfahrt von Bad Ottenstein im Wagen saßen, und eilte dann schnell hinaus. Das Geld aber ließ sie liegen.

Nun gab es noch einzupacken, hunderterlei Kleinigkeiten, die mir jenseits des Ozeans nützlich sein mußten. Darüber verging die Zeit; unten vor dem Fenster wurde es plötzlich hell, und es erklang im vierstimmigen Männerchor das Lied:

»Wenn sich zwei Herzen scheiden,
die sich dereinst geliebt,
das ist ein großes Leiden,
wie's größer keines gibt.«

Das war das Doppelquartett, das aus fünf Setzern und drei Maschinenmeistern bestand. Sie brachten mir ein Abschiedsständchen und hatten dazu dieses Stück gewählt, von dem sie wußten, daß es mein Lieblingslied ist, denn ich hatte es wie oft zum Klavier gesungen.

Darauf mußte ein Dank erfolgen. Ich ging also zu ihnen und führte sie hinüber in die gegenüberliegende Wirtschaft, wo sie des Abends zu verkehren pflegten. Ein Tropfen Wein, das war diesen Familienvätern etwas Ungewöhnliches. Er öffnete ihnen das Herz und die Lippen, und sie erklärten mir, daß alle gewünscht hätten, ich möchte bleiben und nicht immer so wie ein Irrwisch in der weiten Welt herumlaufen. Der Oberdrucker war auch dabei. Er war gesprächig geworden, und machte mich darauf aufmerksam, daß er im Begriff stehe, mir ein Geheimnis mitzuteilen.

»Welches denn? Ist's etwas Gutes?«

»Ja.«

»Dann heraus damit!«

Er setzte sich so, daß die andern nicht hören konnten, was wir sprachen, und sagte:

»Martha Vogel wird, wenn Sie nach einem Jahr wiederkommen, wohl nicht mehr auf ihrer Buntdruckmaschine stehn.«

»O doch! Sie hat mir gesagt, daß sie bleiben will.«

»Sie wird aber nicht bleiben, sondern wo ganz anders stehn!«

»Nun, wo?«

»Auf der Bühne.«

»Was? Auf der Bühne? Will sie unter, die Schauspieler gehn?«

»Ja.«

»Das wäre jammerschade! Wer hat ihr dieses giftige Insekt ins Ohr gesetzt?«

»Einer, der es versteht, nämlich der Kapellmeister; der ihren Bruder bei sich hat.«

»Das möchte ich nicht glauben, ich kenne ihn und weiß, daß er sich sehr bedenken wird, ehe es ihm einfällt, ein Menschenkind in solche Bahnen zu leiten. Er weiß nur zu wohl, daß das Glück dort sehr häufig gesucht wird, aber am wenigsten zu finden ist.«

»Und dennoch ist es so. Er will auch, grad wie Sie, der Entdecker eines berühmten Künstlers oder einer Künstlerin sein. Martha ist kürzlich bei ihrem Bruder gewesen und hat ein Lied mit ihm gesungen. Das hat der Kapellmeister gehört. Die sofort angestellte Probe hat ergeben, daß sie eine überaus schöne Stimme hat. Das war vor vier Wochen, und nun sind sie daran, diese Stimme auszubilden. Tagsüber arbeitet sie an der Maschine; des Abends bekommt sie Unterricht.«

»Warum nimmt er sie da nicht von der Maschine weg?«

»Er hat gewollt, aber sie will nicht. Sonderbares Mädchen, nicht?«

Dabei sah er mich pfiffig von der Seite an. »Ja«, antwortete ich.

»Hat aber einen tieferen Grund, den ich niemand sagen darf und Ihnen am allerwenigsten.«

Er hätte ihn mir doch wohl gesagt und auch noch vieles andre dazu, wenn er nicht jetzt von seinen Kameraden in Beschlag genommen worden wäre.

Also Martha wollte, oder vielmehr, sie sollte eine Sängerin werden! Dieser Gedanke war mir widerwärtig! Das Äußere hatte sie dazu, vielleicht auch die Stimme, denn ihre ganze Familie war musikalisch veranlagt. Aber ihr Herz, ihr Gemüt, ihre Einfachheit, ihre trotz der Jugend so ausgesprochene Gediegenheit! Alle diese Vorzüge kamen dadurch in Gefahr, verlorenzugehn! Konnte ich das verhindern, etwas dagegen tun? Jetzt nicht, heute nicht, dazu war es zu spät, denn kurz nach Mitternacht ging der Zug. Aber nach meiner Rückkehr durfte ich auf Erfolg hoffen. Sie war verständig und hörte gewiß gern meine Gründe an. Ein Jahr! Da stand sie noch nicht auf der Bühne. In so kurzer Zeit wird keine Sängerin fertig. – –

*

4. Der Ölprinz

Meine Abwesenheit von der Heimat dauerte diesmal elf Monate. Als ich auf der Heimkehr in Bremerhaven landete, lernte ich, wie ich bereits anderswo erzählte, in Löhrs Hotel einen jungen Mann kennen, der drüben sein »Glück« gemacht und es bis zum Ölprinzen gebracht hatte. Er hieß Konrad Werner und ist nicht zu verwechseln mit dem schon erwähnten Ludwig Jäger, dem Schwager des Strumpfwirkers Vogel, der ebenfalls in der Neuen Welt reich geworden war. Jetzt kehrte Werner in die Heimat zurück, um nach seiner Mutter zu sehn, die noch im Armenhaus lebte, wo er selber geboren war. Auch gedachte er sich in Deutschland »eine Frau zu suchen«, wie er mir vorschwärmte. Da seine Heimat droben im Erzgebirg lag, war unser Weg der gleiche, und ich hatte nichts dagegen, daß er sich mir auf der langen Eisenbahnfahrt anschloß. Wir fuhren bis Leipzig zusammen. Hier trennten wir uns.

Ich stieg in den Zug nach Dresden, während mein Reisebegleiter die Richtung über Zwickau ins Gebirg einschlug. Bevor wir uns trennten, versprach er mir noch, mich, sobald es ihm möglich sei, in Dresden zu besuchen, Hätte ich damals geahnt, welches Unglück dadurch auf eine Person heraufbeschworen wurde, die meinem Herzen näherstand, als ich harmloser Weltbummler mir träumen ließ, ich hätte nicht so rasch in ein Wiedersehn mit diesem Mann, dessen wahren Charakter ich erst später zu meinem Schaden kennenlernte, eingewilligt.

Wie der freundliche Leser sich erinnern wird, war mir von dem Dresdner Verlagsbuchhändler, dessen Redaktion ich vorübergehend geleitet hatte, gesagt worden, daß man mir meine damalige Wohnung bei ihm bereitstellen werde. Darum hatte ich von Bremerhaven aus diesem Herrn meine Ankunft telegraphisch gemeldet. Ich wurde mit großer Herzlichkeit empfangen und von der Dame in meine zwei traulichen Räume geführt. Auf dem Tisch des Wohnzimmers stand die bekannte Vase mit einem frischen Feldblumenstrauß.

»Von Martha Vogel, die Ihre Aufwartung wieder übernehmen wird, falls Sie es erlauben«, erklärte meine Wirtin.

»Steht sie noch immer in Arbeit bei Ihnen?« fragte ich, erfreut darüber, gleich in der ersten Viertelstunde etwas über das Mädchen zu hören.

»Noch immer! Und wir sind sehr zufrieden mit ihr, denn sie ist unsre zuverlässigste und anständigste Arbeiterin. Das Mädchen hat sich ungemein herausgebildet. Ich möchte wissen, woher sie es nimmt.«

»Steht sie noch an der Buntdruckmaschine?«

»Ja. Sie nimmt keine andre Arbeit an. Ich wollte sie gern als Stütze zu mir nehmen, aber die alte Maschine scheint es ihr angetan zu haben. Einige Male fragte sie nach Ihnen, ob Sie uns geschrieben hätten, und ob Sie nach Ihrer Rückkehr wieder in die Schriftleitung treten würden; sie hält große Stücke auf Sie. Welche Freude, als ich ihr infolge Ihrer Drahtung sagte, daß Sie heut eintreffen würden! Sie bat mich, Ihnen ja keine andre Aufwartung zu geben, und hat heut schon frühzeitig diesen Strauß gebracht. Was aber die Skabiosen bedeuten, die sie gesondert gebunden hat, kann ich nicht sagen.«

»Wissen gnädige Frau vielleicht, wie es ihrem Bruder geht?«

»Der hat riesige Fortschritte gemacht und beginnt Aufsehn zu erregen. Wir haben auf einigen Konzerten Einzelvorträge von ihm gehört, die uns in Staunen setzten. Der Kapellmeister ist aber auch stolz auf diesen seinen Schüler.«

Das freute mich herzlich! Meine Voraussagungen in Beziehung auf den armen Strumpfwirkerjungen schienen also in Erfüllung zu gehn. Was die Skabiosen seiner Schwester sollten, das wußte ich gar wohl; ich hatte ihr vor meiner Abreise ja jene Skabiose aus dem Nationalpark geschenkt.

Da heut Sonntag war, an dem nicht gearbeitet wurde, bekam ich Martha nicht zu sehn. Am andern Morgen ließ ich, wie ich es früher getan hatte, beim Fortgehn die Wohnung unverschlossen und fand bei meiner Rückkehr, daß sie inzwischen dagewesen war. Ich hatte in der Druckerei nichts mehr zu suchen, und der Zutritt war Fremden verboten; als ehemaliger Schriftleiter aber gab ich mir selbst das Recht, Zutritt zu nehmen, und machte einen Rundgang durch die verschiedenen Säle. So kam ich auch in denjenigen, worin sich die Buntdruckmaschine befand. Auf ihrem Tritt stand Martha grad so wie früher und doch auch nicht so wie früher. Ihre Züge waren nicht hagerer, aber feiner, die Linien ihres Gesichts und ihrer Gestalt edler geworden.

Sie hatte mich nicht kommen sehn. Als ich näher trat, ließ der Drucker die Maschine halten. Sie blickte sich nach der Ursache um und sah mich; sie wurde glühend rot, dann wieder leichenblaß und griff sich nach dem Herzen.

»Guten Morgen Fräulein Vogel«, grüßte ich. »Sie waren in meinem Zimmer?«

Sie nickte, als ob sie jetzt nicht sprechen könnte.

»Dann vielen Dank für den gestrigen Feldstrauß. Es war wirklich eine liebe Überraschung für mich. Die Skabiosen sagten mir gleich, wer ihn für mich gepflückt hatte.«

Nach diesen Worten ging ich weiter, ohne ihre Stimme gehört zu haben, und bekam Martha heut und auch am nächsten Tag nicht wieder zu sehn. Am dritten Nachmittag klopfte es bei mir. Ich öffnete, und wer stand vor mir? Der Ölprinz.

»Da haben Sie mich«, sagte er. »Wenn ich lästig falle, kann ich nicht dafür. Warum haben Sie mich eingeladen!«

»Vom Lästigfallen kann keine Rede sein. Sie überraschen mich im Gegenteil auf das angenehmste, wenn ich leider auch erraten muß, daß die Ursache für Sie weniger erfreulich, ja vielleicht sogar traurig sein wird.«

»Da haben Sie recht«, meinte er, nachdem er eingetreten war und Platz genommen hatte. »Ich traf meine Mutter nicht mehr an.«

»Sie ist tot?«

»Leider, leider! Wie glücklich war ich in dem Gedanken, ihr jetzt ein ganz andres Leben bieten zu können, als ihr bisheriges gewesen ist.«

»Ich will nicht versuchen, Sie mit dem Gemeinplatz zu trösten, daß die schönsten Hoffnungen des Menschen nicht in Erfüllung zu gehn pflegen.«

»Danke Ihnen! Und doch bedarf ich gar wohl des Trostes. Ich habe mich der Vernachlässigung meiner Mutter anzuklagen. Daß ich ihr einiges Geld geschickt habe, kann mein Gewissen nicht erleichtern. Ich hätte selbst kommen oder, falls dies nicht möglich war, ihr einen zuverlässigen Menschen schicken müssen, um sie zu mir zu holen.«

»Daß Sie um Ihre Mutter trauern, ist selbstverständlich, aber sich mit solchen Vorwürfen zu quälen, dazu liegt kein Grund vor. Denn Sie sind ja selber erst seit Jahresfrist in gute Verhältnisse und dann in jähem Aufstieg zu Reichtum gekommen. Da ist es jedem Einsichtigen klar, daß Sie sich erst in Ihrem so überraschend geschaffenen Wirkungskreis zurechtfinden mußten.«

Das sagte ich natürlich, um sein Herz zu erleichtern, und doch war es mir selbst traurig zumute, wenn ich mir den Gegensatz ausmalte. Drüben der Millionär, dem selbst in der halben Wildnis, in der seine Ölwerke lagen, alle Genüsse zur Verfügung standen, und hüben im Armenhaus seine Mutter! Ich machte, um ihn zu zerstreuen, einen kurzen Ausflug mit ihm und hatte dann im Sinn, ihn abends ins Hoftheater zu führen. Vorher besuchten wir eine altbekannte Weinstube, in der sich um diese Zeit die hervorragenden Künstler der Hauptstadt ein kurzes Stelldichein zu geben pflegten. Dort saß mein Freund, der Kapellmeister. Als er mich erblickte, stand er rasch auf, kam auf mich zu und sagte:

»Wo stecken Sie denn eigentlich, lieber Freund? Gestern hörte ich, daß Sie zurück seien, und heut habe ich Sie gesucht wie ein verlaufner Pudel seinen noch verlaufneren Herrn. Gut, daß der Zufall Sie mir in die Hände führt!«

»Warum?« fragte ich, nachdem wir uns die Hände geschüttelt hatten.

»Warum! Man merkt es, daß Sie von den Feuerländern kommen. Haben Sie es denn nicht gehört? Wissen Sie es nicht?«

»Was denn?«

»Sie haben also wirklich keine Ahnung, wer heut singt?«

»Keine Spur einer Ahnung! Wer ist denn dieser Stern am Himmel des Gesangs, der Sie so aus allen Fugen bringt?«

»Ein Komet, und zwar ein neu entdeckter!«

»Ah, da begreife ich. Wo ist er denn aufgegangen?«

»Im schönen Land des Paprikas.«

»Eigentlich ein Ding, vor dem die Musen sich hüten sollen, dieser Paprika. Soll ganz besonders die Stimme verderben! Also eine Ungarin?«

»Ja.«

»Jung?«

»Welche Frage! Ein neu entdeckter Komet kann doch nicht eine alte Schachtel sein.«

»Jedenfalls auch hübsch, sonst würden Sie nicht so begeistert sein?«

»Eine Schönheit, sage ich Ihnen!«

»Und wie heißt dieser Komet?«

»Janka Szilagyi. – Was haben Sie heut vor?«

»›Hamlet‹, im Hoftheater.«

»Lassen Sie ›Hamlet‹ sein oder nicht sein, und kommen Sie mit mir in den Liederabend!«

»Hm! Haben Sie drei Plätze nebeneinander?«

»Werde es ermöglichen. Weshalb drei?«

»Weil ich ohne diesen Herrn nicht kommen könnte.«

Ich stellte die beiden einander vor, und wir gingen in den Liederabend, der in einem Gasthaus ersten Ranges stattfand. Als wir den Saal betraten, war er schon so gefüllt, daß nur wenige Plätze leer standen, Für den Kapellmeister aber waren stets einige Sitze vorbehalten. Wie die Vortragsfolge sagte, waren heut drei Sängerinnen zu hören: eine berühmte Sopranistin, eine ebenso berühmte Altistin und sodann die Ungarin, der neu entdeckte Komet. Janka Szilagyi war noch nirgends aufgetreten, und die Kunde, daß das neue Licht sogleich neben Sternen ersten Ranges leuchten sollte, hatte alles, was sich sangeskundig nannte, herbeigezogen.

Zuerst trat die Sopranistin auf. Sie sang eins jener Glanzstücke, denen der Beifall niemals fehlen kann, und nahm ihn mit der Miene einer Königin entgegen, der man die schuldige Huldigung bringt. Dann sang die Altistin eine Kavatine oder so etwas aus irgendeiner Oper, was natürlich ganz denselben tief ergebenen Beifall hervorrief. Und nun sollte Janka Szilagyi kommen.

»Bitte, zeigen Sie doch einmal die Vortragsfolge«, bat ich den Kapellmeister.

Er hatte sie mir vorhin nicht gegeben, sondern nur die Namen der drei Künstlerinnen vorgelesen. Jetzt griff er in seine Taschen und sagte:

»Die Vortragsfolge? Ja, wo habe ich die denn eigentlich hingesteckt? Ich finde sie nicht.«

»So sagen Sie mir wenigstens, was sie singen wird!«

»Singen? Hm! Ich glaube ein Lied, wohl gar ein Lieblingslied von Ihnen.«

»Eine Ungarin, und ein Lieblingslied von mir? Das wäre! Welches denn?«

»Wahrscheinlich – – Hm! Warten Sie; da ist sie ja schon!«

Ja, da war sie! Und wie anders als ihre beiden Berufsgenossinnen! Die Sopranistin war in rosa Seide gekleidet und mit Edelsteinen behangen gewesen wie ein Schmuckfenster; die Altistin hatte von der Schulter oder noch tiefer an in lauter echten weißen Spitzen gesteckt, mit Perlen im hochaufgeputzten Haar. Aber diese Ungarin – – – Ungarin? Ich gab dem lieben Kapellmeister vor Überraschung einen sanften Stoß. Ungarin! Welch eine Täuschung! Das war ja Martha Vogel, meine Aufwartung, unsre Punktiererin an der Buntdruckmaschine!

Sie betrat langsam die Bühne und verbeugte sich leicht und ernst, ganz so, als ob sie schon tausendmal vor einer ausgewählten Zuhörerschaft gesungen habe. Die reiche Fülle des Haares war ihre einzige Zierde und eine gefüllte Skabiose ihr einziger Schmuck. Sie trug ein schlichtes schwarzseidnes Kleid, eng an den Hals schließend und unten bis auf den Boden reichend. Sie war ernst und züchtig, viel mehr Madonna als Sängerin. Mein Auge hing an dieser schönen Erscheinung, und ich fühlte eine Angst, die mir fast den Atem benahm. Wenn sie nicht bestand! Wenn sie umwarf! Welch ein Wagnis von meinem Freund, sie hier als Ungarin einzuführen, sie zum erstenmal in ihrem Leben vor einer Zuhörerschar auftreten zu lassen!

Da begann die Musik die Einleitung. Ich hörte, es war mein Lieblingslied: Wenn sich zwei Herzen scheiden –. Weshalb hatte sie grad dieses gewählt? Wußte sie, daß der Kapellmeister mich suchte, daß ich sie hören würde?

»Wenn sich zwei Herzen scheiden,
die sich dereinst geliebt,
das ist ein großes Leiden,
wie's größer keines gibt.
Es klingt das Wort so traurig gar:
Fahr wohl, fahr wohl auf immerdar,
wenn sich zwei Herzen scheiden,
die sich dereinst geliebt.«

Sie begann leise, aber sicher, ohne zu zittern. Ihre Stimme wuchs bis zum Schluß der ersten Strophe nur allmählich an. Die Hörer lauschten. Das war eine tiefe, reine Stimme, ein Mezzosopran, von dem man zu ahnen begann, daß er wie Orgelton erklingen und erbrausen könne. Dann folgte die zweite Strophe:

»Da ich zuerst empfunden,
daß Liebe brechen mag,
war mir, als sei verschwanden
die Sonn' am hellen Tag.
Wie klang das Wort so traarig gar:
Fahr wohl, fahr wohl auf immerdar!
Da ich zuerst empfunden,
daß Liebe brechen mag!«

In dieser Strophe schwoll die herrliche Stimme zu einer Mächtigkeit an, von der man sozusagen fühlte, daß sie jede Ecke, jeden Winkel des großen Saals ausfüllte. Dann senkten sich die Wogen, die Sonne war am hellen Tag verschwunden; das Leben und die Kraft entflohn, und in tiefer, trostloser Klage erstarb das Lied in der dritten Strophe:

»Mein Frühling ging zur Rüste,
ich weiß gar wohl, warum:
Die Lippe, die mich küßte,
ist worden für mich stumm.
Das eine Wort nur sprach sie klar:
Fahr wohl, fahr wohl auf immerdar!
Mein Frühling ging zur Rüste,
ich weiß gar wohl, warum!«

Sie senkte den schönen Kopf zum Gruß und verschwand im Hintergrund. Kein Mensch bewegte sich, aller Augen hingen an der Tür, durch die sie verschwunden war; aber keine Hand wollte in die andre klatschen. Man holte tief Atem. Es ging ein hörbarer Hauch der Entspannung durch den Saal. Nur nach und nach erklang hier und dort ein Flüstern, und es dauerte minutenlang, bis endlich einer und noch einer und dann auch ein dritter wagte, ein lautes Wort zu sagen.

»Was ist denn das?« fragte mich der Ölprinz. »Niemand klatscht! Hat diese Ungarin etwa nicht gefallen?«

»Im Gegenteil! Sie hat den höchsten Erfolg errungen, den eine Sängerin sich nur wünschen kann. Das sonst übliche Anerkennungszeichen wäre eine Entweihung. Das fühlt hier jedermann.«

»Gott sei Dank! Es wollte mir schon angst und bang werden. Die beiden vorigen erhielten so gewaltigen Beifall, und bei ihr regte sich keine Hand! Jetzt bin ich zufriedengestellt. Zwanzig Dollars, fünfzig, nein, hundert Dollars gäbe ich, wenn sie käme, um dieses Lied noch einmal zu singen! Was sagen Sie zu ihr?«

»Hm!« machte ich. Es war mir nicht lieb, daß er jetzt auf mich einsprach. Er störte die Klänge, die diesem Lied in meinem Innern nachtönten. Deshalb antwortete ich ihm mir mit diesem Hm!

»Gefällt sie Ihnen etwa nicht?« fragte er eifrig und aufdringlich.

»O doch!«

»O doch! Welch eine Antwort! Welch ein Ausdruck, wenn es sich um ein so engelsgleiches Wesen handelt! Wissen Sie, was Sie in Bremerhaven zu mir gesagt haben?«

»Vielerlei!«

»Ja, vielerlei. Ich meine von diesem Vielerlei aber nur das, was ich mir am besten gemerkt habe: ›Es muß einen hell durchzucken: Das ist die Richtige!‹ Verstanden?«

Ich erschrak beinah über diese Worte und fragte, indem ich ihm ins Gesicht sah:

»Meinen Sie etwa, daß––?«

»Ja, ich meine, daß ich die Ungarin mit nach Amerika nehmen werde.«

»Sind Sie des ...?«

»Nein, sondern es ist die ›Stimme vom Himmel‹, von der Sie sprachen. Die Sängerin mit der Madonnengestalt, dieses Mädchen, das genau so singt, als ob es bete, wird meine Frau!«

»Denken Sie, daß sie mit Ihnen geht?«

»Ja.«

»Oho!« entfuhr es mir fast zornig.

»Oho? Da gibt's kein Oho! Ich schlage Sie mit Ihren eignen Worten: ›Wenn es die richtige Stimme in mir ist, so fühlt sie in sich ganz dieselbe Stimme‹.«

»So wollen Sie sie aufsuchen?«

»Ja.«

»Wer sagt Ihnen, wo sie wohnt?«

»Das werde ich auf alle Fälle erfahren.«

»Und wenn sie schon liebt, wenn ihr Herz schon gesprochen hat?«

»Fällt ihr gar nicht ein! Dieses Mädchen weiß noch nicht, was Liebe ist. Ihr Herz wartet noch auf den zündenden Funken. Darauf wette ich meine Millionen!«

»Master Werner, Sie würden die Millionen wahrscheinlich verlieren!«

»Unsinn! Oder wollen Sie mit wetten?«

»Nein, denn ich habe keine Millionen, um sie Ihnen entgegenzusetzen. Und selbst, wenn Sie recht hätten, wenn diese Ungarin noch nichts von Liebe wüßte, so sind Sie nicht der einzige, den sie heut entzückte. Es kann leicht andre geben, die ganz so denken wie Sie.«

»Das mag sein; aber es wird mir keiner zuvorkommen. Und wer mir den Weg kreuzt, den werde ich zwingen, ein wenig in einen geladenen Pistolenlauf zu blicken.«

»Wirklich? Wenn nun ich es selbst wäre, der Ihren Weg kreuzt?«

Unsre Worte folgten sich Schlag auf Schlag. Er war erregt, und ich war es nicht minder. Trotzdem führten wir natürlich die Unterhaltung nur halblaut. Ich befand mich unter einem Bann, in der Gewalt eines Zaubers, der mir gänzlich fremd war. Es stieg ein Ärger in mir auf, der immer größer wurde, je höher er kam. Oder war es nicht Ärger, sondern etwas andres, was ich bisher noch nicht gekannt hatte? War es vielleicht gar – Eifersucht? Ich gab meine Antworten mit wirklicher Bitterkeit. Auf meine letzte Frage drehte er sich schnell völlig zu mir herum, ließ sein Auge an mir herunterlaufen, senkte den Kopf und sagte stockend:

»Dann wäre es – freilich mit dem – Pistolenlauf nichts. Sie würden mich ausstechen!«

Plötzlich hob er den Kopf wieder in die Höhe und fuhr heiter fort:

»Aber Unsinn! So etwas ist ja gar nicht denkbar!«

»Warum?«

»Warum? Das fragen Sie? So hören Sie doch nur: Old Shatterhand und heiraten! Wie reimt sich das zusammen?«

»Wieso?«

»Sie passen in die Prärie, ins Felsengebirg. Sie kriechen in die Höhle des grauen Bären, um die Bestie zu erlegen; aber an der Seite eines schönen zarten Weibes vermag ich Sie mir nicht vorzustellen!«

»Junger Mann, sind Sie wirklich ein solcher Menschenkenner? Ist Old Shatterhand wirklich ein so durch und durch rauher Kerl, daß er eines weicheren Gefühls nicht fähig ist?«

»Das wohl kaum! Aber in die Ehe passen Sie doch nicht. Sie würden Ihrer Frau schon nach kurzer Zeit davonlaufen, um zu Winnetou zu flüchten und sich mit ihm in die Urwälder zu verlieren. Ich aber weiß, daß ich der Diener, vielleicht der Sklave meiner Frau sein werde.«

»Das ist keine Ehre für einen Mann.«

»Weshalb nicht? Ist es nicht ein Glück für einen Mann, eine schöne Frau zu besitzen, ihr zu dienen, alle ihre Wünsche zu erfüllen, sie mit Reichtümern zu beglücken? Können Sie das?«

»Nein.«

»Ja, Ihnen fehlen meine Millionen!«

Es war mir noch nicht gelungen, innerlich wieder ruhig zu werden; daher ärgerten mich die letzten Worte doppelt, und ich platzte heraus:

»Sie scheinen Ihre Millionen für das Beste zu halten, was es auf Erden gibt; aber man kennt andre Schätze, die sich nicht wie ein Ölsumpf mit vierhundert Dollars blindlings erwerben lassen. Setzen Sie sich mit Ihrem Vermögen auf eine Waagschale; wenn dann Old Shatterhand in die andre steigt, wird es sich zeigen, wer von beiden schwerer ist!«

»Alle Wetter! Habe ich Sie beleidigt?« fragte er mich. »Dann verzeihn Sie mir! Es war nicht so gemeint.«

Vielleicht war ich zu scharf gewesen, vielleicht auch nicht. Ich wurde aber glücklicherweise aus der Verlegenheit, ihm etwas erwidern zu müssen, durch den Kapellmeister erlöst, der vom Ende des Liedes an bis jetzt die Anwesenden gemustert hatte und sich jetzt zu mir wandte:

»Nun, was sagen Sie zu meiner Ungarin? Nicht wahr, vortreffliche Leistung?«

»Ja, Sie haben mich großartig überrascht. Ich erfuhr am letzten Abend vor Beginn meiner Reise, daß Sie diesen Stern entdeckt hatten, und nahm mir vor, ihn nach meiner Rückkehr Ihren Fängen zu entreißen.«

»Das war nicht gut gemeint!«

»O doch! Aber ich ahnte nicht, welche Stimmittel dieses Mädchen besitzt.«

»Sie geben mir also recht?«

»Vollständig. Wer hat das Lied gewählt, das sie soeben sang?«

»Sie selbst; sie hat es von Ihnen gehört.«

»Und was singt sie noch?«

»Hier ist die Vortragsfolge; ich habe sie endlich gefunden«, lächelte er.

Ich las »Abendgebet«. Es stand der Name des Komponisten nicht dabei.

»Von wem ist dieses Lied?« erkundigte ich mich.

»Der Komponist ist unbekannt.« Wieder zuckte ein eigenartiges Lächeln um seinen Mund.

»Haben Sie etwa abermals eine Überraschung?«

»Nun ja. Sie werden es hören, und so gestehe ich es Ihnen lieber gleich jetzt: ich selber bin der Komponist. Den Text werden Sie vielleicht kennen.«

»Wer ist der Dichter?«

»Freundchen, Sie wollen zuviel auf einmal wissen. Warten Sie!«

»Wenn Sie nichts sagen, muß ich schon. Aber Ihre Schülerin singt nur noch diese Nummer. Wann geht sie nach Haus?«

»Sofort, wenn sie den letzten Ton gesungen hat.«

»Wer ist bei ihr?«

»Ihre Wirtin, die Frau des Maschinenmeisters oder Oberdruckers, oder was er ist, Sie kennen sie ja.«

»Wollen Sie mir und sich einen Gefallen tun?«

»Welchen?«

»Mein Nachbar zur andern Seite, Master Werner, ist so entzückt von Martha, daß er sich entschlossen hat, ihr seine Millionen anzutragen.«

»So schnell? Ist's Ernst?«

»Es scheint so.«

»Das paßt mir nicht. Meine Mühen sollen Früchte tragen. Eine so gottbegnadete Sängerin darf sich ihre Zukunft nicht in einem amerikanischen Ölgebiet verstänkern. Weiß er, wer sie ist?«

»Nein.«

»Gut, so soll er sie nicht finden!«

»Ich vermute, daß er sich noch heut Mühe geben wird, ihre Wohnung zu erfahren. Wahrscheinlich bricht er gleichzeitig mit ihr auf und fängt sie draußen ab.«

»Dann wollen wir einen Riegel vorschieben. Bevor das Lied zu Ende ist, werde ich stillschweigend verschwinden und sie durch eine Seitenpforte nach der andern Straße geleiten. Doch still, die erste Sängerin.«

Die Diamantenfee trat wieder auf, nach ihr die Altistin; ich hatte für beide kein Auge und kein Ohr, obgleich sie sich umgekleidet hatte und noch reicher geschmückt erschienen als vorher. Dann kam Martha wieder, wie vorhin in Schwarz.

Das Orchester, das heute nicht vom Kapellmeister, sondern von seinem Vertreter geleitet wurde, begann das Vorspiel. Es waren schlichte, ernste Töne. »Abendgebet« lautete der Titel. Es klang wie frommes Waldesrauschen; und da begann die Sängerin:

»Müde bin ich, geh zur Ruh,
mach die Augen nicht gleich zu;
Heimweh unter fremdem Dach
hält mich wohl noch lange wach.
Falte meine Hände fromm:
Lieber Himmelsfriede, komm!
Breite über dieses Haus
und – daheim dich segnend aus!
Hab ich unrecht heut getan,
führ mich, Gott, auf reinre Bahn;
sei barmherzig im Gericht;
straf mich, doch verstoß mich nicht!
Und ihr Lieben um mich her,
mir zum Schutz, zur starken Wehr,
die ihr freundlich mich bewacht,
dank sei euch und – gute Nacht!«

Der Kapellmeister hatte wahr gesprochen, als er sagte: »Ein Gedicht, das Sie vielleicht kennen werden.« Das, was jetzt gesungen wurde, war ein Gedicht von mir selber, das man in einer Zeitschrift des Verlags abgedruckt hatte. Er hatte die Stimmung meisterhaft getroffen, und ebenso meisterhaft wurde die Vertonung vorgetragen. Welche Weichheit und Innigkeit im Ausdruck! Martha erntete stürmischen Beifall. Dieses Mal wurde geklatscht; sie mußte viermal zurückkommen. Am eifrigsten tobte mein Amerikaner. Er schien dadurch ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehn zu wollen. Der Kapellmeister hatte sich kurz vorm Ende dieses Lieds durch einen Händedruck von mir verabschiedet und rasch den Saal verlassen.

»Das war herrlich! Das war einzig! So etwas habe ich noch nicht gehört«, meinte der Ölprinz, als er mit Klatschen aufhörte, weil ihn die Hände schmerzten. »Ich bleibe bei dem, was ich gesagt habe: sie ist die Richtige. Ich gehe, um sie abzufangen. Dazu bedarf ich Ihrer Hilfe nicht. Gute Nacht!«

Er wählte seine Ausdrücke nicht mehr so wie früher. »Dazu bedarf ich Ihrer Hilfe nicht!« Das war sehr kurz und ohne Umstände. Ich wurde auf die Seite geschoben. Warum ärgerte ich mich so sehr darüber? Sonst war ich doch nicht so empfindlich! Ich fühlte, daß ich bei gewöhnlicher Stimmung über ihn gelacht hätte; das brachte ich jetzt aber nicht fertig. Überhaupt war ich ganz und gar mit mir unzufrieden und blieb höchst verdrießlich sitzen, als der Saal sich zu entleeren begann. Die Lobreden, die Ausdrücke der Bewunderung für die neue Sängerin, die ich dabei hörte, ergrimmten mich. Was hatten diese fremden Menschen mit Martha zu schaffen! Wer hatte ihnen erlaubt, von ihr zu sprechen! War nicht ich und immer nur ich allein die Ursache, daß sie nach der Hauptstadt gekommen war?

Da wurde das vorletzte Licht des großen Leuchters ausgeblasen, und ich ging. Als ich auf die Straße gelangte, sah ich den Ölprinzen. Er trat rasch auf mich zu und fragte:

»Haben Sie sie gesehn?«

»Wen?«

»Fragen Sie doch nicht! Die Ungarin natürlich!«

»Nein.«

»Ich auch nicht. Sie muß also noch drin sein.«

»Schwerlich! Die ist längst fort.«

»Da hätte sie hier an mir vorüber gemußt.«

»Nicht grad nötig. Es gibt noch andre Ausgänge«, meinte ich, indem ich die schönste Schadenfreude fühlte.

»Wo denn?«

»Nach der andern Straße. Das Hotel ist, wie Sie sehn, ein Eckhaus.«

»Alle Wetter! So stehe ich also, vor Sehnsucht zitternd, hier, und indessen huscht sie da drüben hinaus?« »Ja, so ist es, mein Verehrtester!« lachte ich vergnügt.

»Sie scheinen sich über diesen meinen Mißerfolg zu freuen!«

»Ich lache, weil die Schlauheit, mit der Sie sich hier aufgestellt haben, mir Spaß macht. Die Millionen tun es doch wohl nicht allein. Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß der Kapellmeister, der neben mir saß, der eigentliche Vorstand des Orchesters ist?«

»Ja, als Sie uns bekannt machten.«

»Er muß also über die Verhältnisse der Sängerin am besten unterrichtet sein. Warum haben Sie ihn nicht gefragt?«

»Alle dreitausend Teufel, das ist ja richtig! Anstatt mich wie einen Ölgötzen hierher zu stellen, brauchte ich ihm nur ein Wort zu sagen! Weshalb haben aber Sie nicht gefragt?«

»Weil ich nicht erfahren will, wer sie ist!«

»Sie konnten und sollten es unbedingt für mich tun! Doch, das läßt sich nachholen. Ich suche ihn noch heut auf. Er muß zu finden sein. Sie sind sein Freund und kennen also die Gaststätten, wo er verkehrt?«

»Ja.«

»Wo wird er jetzt sein?«

»Bei der Ungarin.«

»Aus welchem Grund?«

»Er mußte ihr als Kapellmeister doch zu ihrem Erfolg Glück wünschen. Daher ging er schon während ihres zweiten Vortrags fort, und da er nicht zu mir zurückgekehrt ist, bin ich überzeugt, daß er die Dame nach Haus begleitet hat.«

»Den Teufel soll er begleiten! Ist er verheiratet?«

»Sehr! Seinetwegen brauchen Sie keine Eifersucht zu fühlen.«

»Ich bin allerdings eifersüchtig. Wehe dem, der die Hand nach ihr ausstreckt! Nun gut: wenn er sie bis an ihre Tür gebracht hat, verabschiedet sie ihn. Wohin geht er dann?«

»In irgendein Kaffeehaus oder einen Gasthof.«

»So kommen Sie schnell!«

»Wohin?«

»Ihn suchen!«

»Dazu bedürfen Sie meiner Hilfe wohl ebensowenig wie vorhin. Gute Nacht!«

Ich drehte mich um, ließ ihn stehn und ging rasch fort. Ich erzähle das aufrichtig, füge aber hinzu, daß ich mich heut dieses gegen einen Gast ruchlos zu nennenden Verhaltens herzlich schäme. Vielleicht entschuldigt es mich einigermaßen, daß ich an jenem Abend ganz und gar nicht der war, der ich sonst gewesen bin. Es war ein Zwiespalt in mir eingezogen. Ich fühlte in meinem Innern zwei Stimmen, konnte aber nicht sagen, welche die richtige, die ehrlich meinende war.

Ich lief also fort, durch mehrere Straßen, über den Schloßplatz, die Augustusbrücke, die Haupt- und die Bautzner Straße, immer weiter, bis ich mich bei nächtlich dunklem Himmel in der einsamen Dresdner Heide, im Wald, befand. Das war mir grad recht. Man wird innerlich am schnellsten klar, wenn es äußerlich um einen dunkel ist. Welche Heidepfade ich da gegangen bin, weiß ich nicht mehr. Ich versuchte, in mich hineinzuschauen, und konnte den Wirrwarr, den es da gab, nicht durchdringen. Freundschaft, Zuneigung, bloße Teilnahme, Liebe, Mißtrauen, Mißgunst, Eifersucht, empörter Stolz, Mitleid, Entzücken, Skabiosen, Old Shatterhand, die Höhle des grauen Bären, in die ich gehören sollte, jener heimliche Kuß vor meiner Abreise, der Ölprinz, die Skabiose auch heut im Haar der Sängerin, dabei doch tausend Zweifel, mein Lieblingslied und das Gedicht, die sie für ihr erstes Auftreten gewählt hatte, die Millionen des Amerikaners und mein zuweilen sehr hagerer Geldbeutel, meine Erfahrungen und seine Unerfahrenheit, mein Charakter und seine Haltlosigkeit, sie nach innen und außen ein Juwel, er aber ein oberflächlicher, kenntnisloser, nur durch eine Woge des Zufalls emporgehobener Mensch, der ebenso schnell wieder versinken konnte. – – Das alles wirbelte und drehte sich in mir herum und wollte nicht auseinander kommen, wollte sich nicht klären. Ob sie mich liebte? Ich wagte es nicht zu glauben, ich, der Bär! Ob ich sie liebte? Ja, das war eine böse Frage! Hatte ich nicht gesagt, es müsse einen durchzucken: das ist die Richtige! Ihn hatte es durchzuckt, aber mich nicht. Als ich sie vor ihrem Häuschen zum erstenmal sah, erblickte ich in ihr wohl ein liebes, schönes Kind, auf das einige Reime zu verbrechen ich unter Umständen wohl imstand sei. Weiter hatte ich nichts gefühlt. Und jetzt trieb es mich nächtlicherweise da im Wald umher! Sollte sich die Liebe auch nach und nach entwickeln können? Vielleicht besitzt Amor zwei Arten von Pfeilen, die einen, die er ganz plötzlich verschießt, und andre, mit denen er sich heimlich, langsam und innerlich kichernd heranschleicht, um sie einem bei offnen Augen oder vielmehr trotz offner Augen so recht blutdürstig nach und nach ins Herz zu bohren? Wer kann das wissen! Was ich bisher über diesen kleinen Schlingel hatte erfahren können, war so viel wie gar nichts. Der alte Lehrer Langhammer hatte uns neunjährigen Knaben erzählt, daß Amor, von den Römern auch Kupido, von den Griechen aber Eros genannt, es besonders auf ein kleines, hübsches Mädchen, Psyche, abgesehen habe. Bald meine er es gut mit ihr und bringe ihr Pfefferkuchen vom Jahrmarkt mit, bald quäle er sie in so unausstehlicher Weise, daß sie große Ströme von Tränen vergieße. Das sei durchaus nicht hübsch von ihm. Er habe übrigens immer sehr spitzige Pfeile bei sich, mit denen er schon unendliches Unheil angerichtet habe und auch wahrscheinlich ferner noch anrichten werde. Er sei, alles in allem ein gemeingefährlicher Bösewicht. Wir wurden wütend auf diesen Buben und zogen mit selbstgefertigten Pfeilen und Bogen hinaus auf das Feld und in den Wald, um ihn für die leidende Menschheit und besonders für die liebe, kleine Psyche unschädlich zu machen, haben ihn aber leider nicht zu Gesicht bekommen – damals nicht, und auch später habe ich ihn nicht gesehn, ihm aber den heiligen Knabenzorn mit großer Treue bewahrt. Sollte dieser Missetäter sich grad wegen dieses Zorns an mich geschlichen haben, um sich zu rächen?

Das war die Hauptfrage, zu der ich keine Antwort fand. Der Tag graute bereits, als ich über die Marienbrücke in die Altstadt zurückkehrte. Zu Haus legte ich mich nieder, doch stellte sich der Schlaf erst nach Verlauf von wohl einer Stunde ein.

*

5. Blitzschläge

Als ich erwachte, war es spät am Vormittag, kurz vor der Frühstückspause der Verlagsangestellten. Martha kam um diese Zeit, um die in der Wohnung etwa gestörte Ordnung wiederherzustellen. Sie trug ihr Arbeitskleid und gab mir eine Karte, die mehrfach eng zusammengefaltet war.

»Sie steckte im Schlüsselloch«, erklärte sie.

Auf der Karte war zu lesen: Mr. Konrad Werner, Oil-Swamp, California. Er war also schon dagewesen und wieder gegangen. Sie konnte ihn aber nicht gesehn haben, da sie im Druckersaal arbeitete, wo er keinen Zutritt hatte. Darum fragte ich sie nicht nach ihm. Sie sah heut bleich aus, und die unsichere Art, wie sie sich im Zimmer zu schaffen machte, verriet, daß sie sich verlegen fühlte.

»Sie scheinen nach dem gestrigen Abend ermüdet zu sein«, sagte ich, »Sie sollten sich heut einen Ruhetag gönnen.«

»Das geht nicht«, antwortete sie, indem sie die beschäftigte Hand sinken ließ und sich mit niedergeschlagnen Augen zu mir kehrte. »Ich fühle mich auch gar nicht ermüdet. Das Singen strengt mich nicht an; es ist mir eine Lust.«

»Ich hörte damals erst ganz kurz vor meiner Abreise, daß der Kapellmeister Ihnen Unterricht erteile. Weshalb haben Sie mir nichts davon gesagt, Martha?«

»Weil er es mir verbot; Sie sollten überrascht werden.«

»Nun, diese Überraschung ist Ihnen aufs vortrefflichste gelungen. Ich beglückwünsche Sie von ganzem Herzen zu der herrlichen Gabe, die der Herrgott Ihnen verliehn hat. Nicht nur überrascht war ich, sondern geradezu entzückt.«

Ich gab ihr die Rechte. Sie legte ihr Händchen hinein und ließ es da ruhen.

»Nun möchten Sie aber wohl Ihre bisherige Arbeit aufgeben«, fuhr ich fort, »da Ihre Zukunftspläne jetzt ganz andre sein werden.«

Sie hob die Augen nicht empor und schüttelte den Kopf, ohne sonst zu antworten.

»Nicht? Was fesselt Sie denn so an Ihre Maschine?«

Jetzt hob sie die Wimpern und sagte:

»Ich habe meine Tätigkeit hier sehr liebgewonnen.«

»Aber Sie müssen sie dennoch aufgeben. Ihr jetziger Beruf erfordert das. Es ist dies ein zwar schöner, aber auch gefährlicher und dornenvoller Beruf. Ist der Kapellmeister so aufrichtig gewesen, Ihnen dies zu sagen?«

»Nein. Es war auch nicht nötig, es mir zu sagen, denn mir wird dieser Beruf keine Gefahr bringen.«

»Glauben Sie das nicht, Martha! Es gibt – – –«

Ich wollte weitersprechen, sie unterbrach mich aber:

»Ich habe nur dieses eine Mal gesungen und singe nicht wieder.«

»Unmöglich!« rief ich aus. »Das kann Ihr Ernst nicht sein.«

»Es ist mein völliger Ernst; ich habe es beschlossen und werde es halten!«

»Warum haben Sie da Unterricht genommen? Ihre hohe Begabung, Ihre herrliche Stimme, sollen diese Schätze vergraben werden?«

»Nein«, lächelte sie verlegen. »Ich werde auch später singen, aber nicht öffentlich, nicht in Konzerten oder gar auf der Bühne, sondern daheim.«

»Daheim – – – –!«

Was lag nicht alles in diesem Wort und in diesem ihren Entschluß! Sie stand so schön, so lieb, so verschämt vor mir, ihre Hand noch immer in der meinigen. Fast hätte ich sie ans Herz gezogen, aber – – »Old Shatterhand paßt in die Prärie, ins Felsengebirge, in die Bärenhöhle, nicht aber an die Seite eines schönen, zarten Weibes!« Mein Blick fiel in den Spiegel. Dort gab es ein ernstes, sonnverbranntes Gesicht, das eines Mannes, den das Leben bisher noch niemals freundlich angelächelt hatte. Und vor mir stand das Glück in seiner schönsten, jugendlichsten Gestalt. War es nicht eine schwere Sünde, diese Schönheit, diese Jugend an dieses braune Gesicht, an ein Leben, das mir vielleicht niemals Ruhe bot, zu ketten? Ja, gewiß.

»Also daheim, nur daheim?« wiederholte ich, indem ich nicht ohne Überwindung ihr Hand fallenließ. »Sie haben damit einen großen und wichtigen Entschluß gefaßt. Ihre einstige Häuslichkeit wird eine Stätte der edelsten und reinsten Genüsse sein. Behalten Sie dazu Ihren jetzigen Gottesglauben, Ihre jetzige Frömmigkeit, so wird es Ihnen am wahren Glück niemals mangeln. Aber wird der Kapellmeister diesem Entschluß beistimmen?«

Es waren Tränen in ihre Augen getreten, und auch mir war es so recht weh zumute. Sie erwiderte:

»Wenn ich da auf Ihren Beistand rechnen dürfte!«

»Das können Sie, und das sollen Sie. Ich werde mit ihm sprechen. Und nun, bitte, sagen Sie mir einmal eins recht aufrichtig, Martha: Weshalb haben Sie für Ihr gestriges und einziges Auftreten mein Lieblingslied gewählt?«

»Weil ich kein schöneres kenne.«

»Und dann die andere Komposition? Wie ist der Kapellmeister zu dem Text gekommen? Ich weiß, daß er die Zeitschrift nicht besitzt.«

»Ich sah die Hefte oft hier auf dem Schreibtisch liegen«, flüsterte sie verlegen. »Ich blätterte darin und – – – und – – –«

»Und – – – weiter!«

»Und habe mir erlaubt, sie einigemal heimlich mit nach Hause zu nehmen, um – – – um – – –«

»Um – – – bitte?«

»Um die Gedichte während der Nacht abzuschreiben. Sind Sie mir böse darüber?«

»Nein. Ich hätte Ihnen die Hefte geschenkt, wenn ich geahnt hätte, daß Ihnen diese ernsten Verse gefallen. Warum aber haben Sie grad mein Lieblingslied und dieses mein Gedicht gewählt?«

»Weil wir Ihnen so sehr viel verdanken«, antwortete sie errötend, »und weil – – – weil – – – weil ich überhaupt nicht für andre, nur für Sie singen wollte.«

Bei diesen Worten durchzuckte es mich wie ein elektrischer Schlag. Was war das? Täuschte ich mich, oder war es ein Traum? Da war sie ja, diese schnelle Erkenntnis: das ist die Richtige! Ich streckte den Arm nach ihr aus, aber sie hatte sich während der letzten Worte schon nach der Tür gewendet.

»Halt, Martha! Nur noch eins!«

Sie blieb stehen.

»Waren Sie am Morgen vor meiner Abreise, als ich noch auf dem Sofa schlief, hier im Zimmer?«

»Ja«, gestand sie erglühend, da sie den Strauß, den sie hereingebracht hatte, nicht ableugnen konnte.

»Und auch am Sofa, sehr nahe am Sofa?«

»Nein, nein, das nicht, nur das nicht!« rief sie aus und eilte fort.

Ich stand da wie im Traum und blickte nach der Tür, die sich hinter ihr geschlossen hatte. War der Kuß also kein Traum, sondern Wirklichkeit gewesen? Nur für mich hatte sie singen wollen! Und nur »daheim« wollte sie ferner singen! Sollte Old Shatterhand denn doch nicht bloß in eine Bärenhöhle passen, sondern fähig sein, auch zartere Wesen richtig zu behandeln oder ihnen wenigstens Teilnahme einzuflößen?

Draußen stand ein schweres Gewitter am Himmel; aber ich mußte hinaus. Ich setzte den Hut auf, knöpfte den Regenmantel über und ging. Eben trat ich aus meinem Zimmer, da kam der Oberdrucker aus der Schriftleitung.

»Um Gottes willen, wollen Sie jetzt fort?« rief er mir zu. »Sehn Sie nicht die Blitze? Hören Sie nicht den Donner? Es wird ein sehr schweres Gewitter werden!«

»Ich gehe nicht weit.«

»Ach, nur frühstücken? Das kann man wohl wagen. Haben Sie die Karte erhalten, die Herr Werner Ihnen an die Tür gesteckt hat?«

»Ja. Wissen Sie davon?«

»Natürlich! Ich habe ihn durch die ganze Druckerei geführt. Er war wohl eine Stunde da und hat dann einen Hundertmarkschein, denken Sie, Herr May, einen ganzen Hundertmarkschein, für Bier gestiftet.«

»Ach! Wie ist das gekommen?«

»Ganz einfach. Ich wollte hinauf in die Falzerei, da sah ich ihn, den ich nicht kannte, auf Ihre Tür zugehn. Ich sagte ihm, daß Sie jetzt wahrscheinlich noch nicht zu sprechen seien, weil die Spannhölzer noch in dem offnen Schlafzimmerfenster steckten. Das ist stets ein Zeichen, daß Sie noch ruhen. Er sagte, daß er irgendwo in einem nahen Gasthaus warten wollte. Da wurde die Tür zu unserm Saal weit geöffnet, um einen Rollwagen durchzulassen; der Fremde blickte hinein und sah unser Fräulein Martha auf der Maschine stehn. Er machte ein ganz unbeschreibliches Gesicht und fragte, wer sie sei, und ob sie vielleicht singen könne.«

»Haben Sie ihm das gesagt?«

»Ja, ich sollte wohl nicht?«

»Nein. Sie wissen jedenfalls, daß ganz besonders hier niemand von dem gestrigen Konzert hören soll. Hat er davon gesprochen?«

»Ja.«

»Und Sie gestanden ein, daß sie da gesungen hat?«

»Ja. Er drückte mir ein Zehnmarkstück in die Hand, und Sie wissen, daß ein Arbeiter solchen Gründen schwer widerstehn kann.«

»Ich würde Ihnen gern jetzt fünfzig Mark geben, wenn Sie widerstanden hätten. Vielleicht haben Sie da einen Fehler begangen, der viel größer ist als Sie wohl denken. Nun erzählen Sie mir aber aufrichtig das Weitere!«

»Gern! Er sagte, er hätte noch nie eine so große Druckerei gesehn, und ob es nicht möglich sei, daß er Zutritt nehmen dürfe. Ich erwirkte ihm beim Alten die Erlaubnis dazu und habe ihn umhergeführt.«

»Überall?«

»Nein. Er schien nur Wert auf den Maschinensaal und ganz besonders auf den Buntdruck zu legen.«

»Also für die Maschine, an der Ihre Mieterin arbeitet! Hat er mit ihr gesprochen?«

»Längere Zeit. Er ist einige Male zu ihr zurückgekehrt. Der Meister erhielt auch ein Trinkgeld und ließ die Maschine stehn.«

»Schöne Ordnung das! Es soll nicht geplaudert, sondern gearbeitet werden. Wissen Sie vielleicht, was er erzählt hat?«

»Ja, Fräulein Martha hat es mir gesagt.«

»Nun?«

»Daß er in Amerika lebt, daß er Ölprinz und Millionär ist, daß er Sie sehr gut kennt und von Ihnen viel erzählen kann Dann hat er mich und meine Frau für heut abend nach dem ›Kaffee König‹ eingeladen.«

»Und Martha? Ich vermute sehr, daß sie auch eingeladen wurde.«

»Natürlich, auch sie.«

»Wird sie mitkommen?«

»Ja; sie wollte nicht, aber er redete ihr so lange zu, bis sie einwilligte.«

»Ach, also doch!«

»Halten Sie das für einen Fehler? Sie hat nur eingewilligt, weil ich mit der Frau dabei bin, und weil er von Ihnen erzählen kann. Sie hört so gern von Ihnen, und er sagte, daß er hundert Abenteuer von Old Shatterhand wisse.«

»So! Weiter!«

»Weiter nichts. Er ging dann fort, nachdem er seine Karte in die Tür gesteckt und mir den Hundertmarkschein für die Leute gegeben hatte.«

»Gut. Sagen Sie niemand, daß ich das nun weiß, was Sie mir erzählt haben!«

»Auch Fräulein Martha nicht?«

»Ihr nicht, ihm nicht, Ihrer Frau nicht und überhaupt keinem Menschen. Ich hoffe, daß Sie mir das versprechen!«

»Natürlich! Und Sie kennen mich und wissen, daß ich dieses Versprechen halten werde!«

Er ging in seinen Saal, und ich trampelte auf die Straße hinaus ins Regenwetter. Wie schnell hatte sich meine Stimmung verändert! Er hatte sie gefunden! Das war an sich nicht schlimm; aber sie hatte mir seine Karte gebracht und nicht gesagt, daß er mit ihr gesprochen habe. Sie hatte sogar verschwiegen, daß sie von ihm eingeladen worden war. Ich, der sonst so ruhige und überlegsame Mann, fühlte mich dadurch so mißgestimmt, so erzürnt, daß ich immer weiter stampfte, die Weißeritz entlang und zur Stadt hinaus ins Ostragehege.

Es goß wie aus Kannen; Blitz fiel auf Blitz, und zwischen den einzelnen Donnerschlägen gab es fast gar keine Pausen. Das war selbst meinem Regenmantel zuviel; ich stellte mich unter eine der in langen Reihen stehenden riesigen Linden, obgleich ich wohl wußte, daß man dergleichen Schutzplätze während eines Gewitters möglichst zu vermeiden habe. Der Regen kam immerfort wie ein See herab, und seine stürzenden Fluten wurden von förmlichen Feuerklumpen durchzuckt. Einmal schien es mir, als ob so ein Blitz seine Richtung grad nach meinem Baum nehmen wolle. Ich sprang darunter hervor und stellte mich unter einen andern, der ungefähr zwanzig Schritte entfernt stand. Das war eigentlich lächerlich, denn es ist ja unmöglich, die Richtung eines Blitzes zu bestimmen und seiner ungeheuren Schnelligkeit zu entkommen; ich handelte aber unwillkürlich, und die Eingebung, der ich gefolgt war, rettete mir das Leben, denn kaum stand ich unter dem zweiten Baum, so gab es ein Krachen, als ob die Erde zerbersten wolle; eine ungeheure Feuergarbe stürzte vom Himmel; die ganze Umgegend schien in Flammen zu stehn; Zweige, starke Äste und schwere Holzsplitter flogen umher; ich stand wie betäubt und war geblendet; als nach einiger Zeit meine Augen ihre Sehkraft wieder erlangt hatten, erblickte ich nur noch den Stumpf des Baums, unter dem ich zuerst gestanden hatte. Er war vom Blitz getroffen worden, und dieser hatte seinen gewaltigen Wipfel zerrissen und in einzelnen Stücken umhergeschleudert. Daß mich keines getroffen hatte, verdankte ich nur dem Umstand, daß ich zu dem andern Baum geflüchtet war und mich hinter dessen dicken Stamm verbarg.

Ich faltete die Hände und wollte beten, wollte Gott für meine Rettung danken; ich brachte es nicht zu Worten; die Lippen bebten, vermochten aber nicht einen Laut hervorzubringen. Auch die Beine zitterten; sie wollten mir nicht gehorchen; ich riß mich fast mit Gewalt von der Stelle los, auf der ich stand, und kehrte nach der Stadt zurück. Der Schlag, dem ich entgangen war, hatte mein Inneres zur Ruhe gebracht. Der Sturm im menschlichen Herzen muß schweigen, wenn der Herr durch seine Donner und Blitze redet.

Zu Haus wurde ich vollends ruhig. Es gibt eine mächtige Hand, an der alle Menschen gehn. Was sind alle unsre Gedanken und Gefühle gegenüber Gottes Willen! Es war in mir so still geworden, daß ich bis zum Abend arbeiten konnte, ohne von dem, was mich am Morgen bewegt hatte, abgelenkt zu werden. Dann wanderte ich nach dem Kaffeehaus, in dem ich Martha zu sehn hoffte; ihr dortiges Verhalten sollte zwischen ihr und mir entscheiden.

Ich saß stundenlang. Die Erwarteten kamen nicht. Da trat ein befreundeter Herr zu mir, um mich zu begrüßen. Dabei meinte er:

»Ich hätte nicht geglaubt, Sie hier zu treffen. Warum versäumen Sie die viel bessere Unterhaltung, die Ihnen geboten ist?«

»Welche Unterhaltung?«

»Den Vereinsball der Buchdruckereibesitzer. Es werden lebende Bilder gestellt, und wie ich höre, gibt es dann einen Umzug aus dem Mittelalter, zu dem sogar das Hoftheater die Trachten gestellt hat. Sie sind natürlich auch geladen?«

Ja, ich war allerdings geladen. Mein Wirt, der Verlagsbuchhändler, der Vorstandsmitglied des Vereins war, hatte mir die Karte persönlich gegeben. Da ich aber dergleichen Festlichkeiten nicht zu besuchen pflegte, hatte ich die Sache außer acht gelassen. Jetzt aber kam mir ein Gedanke. Die Mitglieder hatten das Recht, einen oder auch einige hervorragende und treue Arbeiter mitzubringen, was als eine vielbegehrte Auszeichnung für diese galt. War der Oberdrucker vielleicht noch nachträglich eingeladen worden?

Ich machte mich also auf den Weg nach dem Saal, in dem der Ball stattfand, und ging dort auf die Empore, von der aus ein vollständiger Überblick ermöglicht war. Die lebenden Bilder waren bereits vorüber; man rüstete sich zum Umzug der Masken. Richtig! Am Schenktisch stand der Oberdrucker bei seinem Arbeitsgeber, und da drüben unter dem Wandleuchter saß seine Frau mit Martha; den Sitz neben ihr hatte der Amerikaner eingenommen. Er sprach eifrig auf sie ein, und sie schien ihm nicht ohne Wohlgefallen zuzuhören.

Die Frau blickte zufällig zu mir herauf; sie sah mich und machte die andern beiden auf mich aufmerksam. Der Ölprinz verließ sofort seinen Platz und kam nach oben. Sein Gesicht glänzte vor Vergnügen, als er mich mit den Worten begrüßte:

»Warum kommen Sie so spät? Fräulein Vogel hat schon einigemal nach Ihnen gefragt.«

»Wußten Sie denn, daß ich kommen würde?«

»Das verstand sich doch von selbst. Der Oberdrucker sagte es. Er hatte von seinem Dienstherrn gehört, daß Sie eine Karte haben.«

»Und ich wußte nicht, daß auch er eingeladen ist.«

»Das ist erst kurz vor Mittag geschehn, sozusagen als Belohnung für das gelungene Bild, dessen Probedruck er heut hergestellt hat. Die Gattin seines Herrn hat es ihm dabei ans Herz gelegt, ja auch Fräulein Vogel, seine beste Punktiererin, mitzubringen. Die Dame scheint sehr für Martha eingenommen zu sein.«

»Martha? Hm! Sie kennen bereits den Vornamen?«

»Allerdings. Wir Amerikaner pflegen uns nicht lange bei den Einleitungen aufzuhalten. Sie wissen ja: Zeit ist Geld!«

»Wie aber kommen Sie hierher?«

»Sehr einfach. Ich hatte den Oberdrucker mit seiner Frau und Martha für den Abend in ein Kaffeehaus bestellt; da ich es für besser hielt, sie nicht dort zu erwarten, so eilte ich zu ihnen, sie abzuholen. Und das war gut, denn sie wären nicht gekommen. Sie standen im Begriff, hierher zu gehn. Natürlich schloß ich mich ihnen an. Ich wurde dem Vorsteher vorgestellt und erhielt die Erlaubnis zum Eintritt. Wissen Sie, wenn diese Leute hören, daß man Ölprinz und Millionär ist, öffnen sie bereitwillig die Türen. Am meisten freut mich dabei, daß ich Ihnen einen Streich gespielt habe.«

»Wieso einen Streich?«

»Sie haben nicht gewünscht, mich hier zu sehn.«

»Sagen Sie: nicht gewußt oder nicht geglaubt!«

»Auch nicht gewünscht! Sie geben doch zu, daß Sie Martha kennen, und zwar schon lange?«

»Allerdings.«

»Und daß Sie mir dies gestern abend verschwiegen haben?«

»Ich war dazu verpflichtet.«

»Wieso?«

»Es sollte kein Mensch erfahren, wer die Sängerin eigentlich sei.«

»Aber mit mir konnten Sie doch wohl eine Ausnahme machen, mit einem guten Bekannten!«

»Ich habe hier in Dresden so viel gute und auch noch bessere Bekannte, daß, wenn ich mit jedem eine Ausnahme hätte machen wollen, die meisten gestrigen Konzertbesucher das Geheimnis erfahren hätten. Und da Sie geradezu leidenschaftlich darauf erpicht waren, die Bekanntschaft der Sängerin zu machen, mußte ich mich Ihnen gegenüber doppelt zur Verschwiegenheit verpflichtet fühlen.«

»Ganz gut! Sie sehn aber ein, daß es Ihnen nichts genützt hat. Haben Sie meine Karte an Ihrer Tür gefunden?«

»Ja.«

»So werden Sie auch erfahren haben, daß ich in der Druckerei gewesen bin und dieses herrliche Mädchen gesehn und gesprochen habe. Ich wiederhole mein gestriges Wort: sie wird meine Frau!«

»Da wünsche ich Ihnen alles Gute!«

»Ach, Sie beglückwünschen mich schon? Gestern abend sprachen Sie anders!«

»Weil ich nicht annehmen durfte, daß Sie die Sängerin so schnell entdecken würden.«

»Oh, ich hätte sie auf alle Fälle entdeckt. Ich wäre nicht eher von Dresden fortgegangen, bis ich sie gefunden hätte. Darauf können Sie sich verlassen! Und da ich sie gefunden habe, gehe ich ihr nicht eher von der Seite, als bis ich mit ihr einig geworden bin.«

»Einig geworden? Ist es denn ein Handel, den Sie da treiben?«

»So ähnlich. Ein Kompaniegeschäft. Sie gibt ihre Schönheit, und ich gebe meine Millionen. Meinen Sie nicht, daß beide Teilhaber sich dabei gut stehn werden?«

»Ich besitze gar keine Meinung über dergleichen Geschäfte.«

»Es sind die besten, die es gibt, und darum lache ich heute über den Gedanken, der mir gestern Sorge machte. Vielleicht erraten Sie ihn?«

»Nein.«

»Denken Sie, ich war so dumm, Sie für einen Nebenbuhler zu halten.«

»Ah, so!«

»Ja, wirklich! Es ist kaum glaublich; aber ich hatte wirklich diesen unsinnigen Gedanken. Darum bemühte ich mich so angelegentlich, Ihnen beizubringen, daß Old Shatterhand in die Prärie gehört und als Ehemann undenkbar ist. Sind Sie mir bös darüber?«

»Muß ich Ihnen nicht vielmehr dankbar dafür sein, da es mir sonst vielleicht doch einmal eingefallen wäre, eine arme, ahnungslose Dame unglücklich zu machen?«

»Das meine ich auch. Aber kommen Sie doch mit hinab! Martha freut sich darüber, daß Sie hier sind.«

»Gehn Sie nur voraus! Ich folge nach. Eben setzt sich der Maskenzug in Bewegung, und der ist von hier oben am besten zu sehn.«

»Schön, ich gehe. Aber vorher noch eine Frage! Tanzen Sie?«

»Wozu diese Erkundigung?«

»Sie wollen damit sagen, daß sie ganz und gar überflüssig ist? Richtig! Old Shatterhand und – tanzen! Lächerlich! Aber wenn Sie die Absicht doch gehabt hätten, an Martha wären Sie nicht gekommen.«

Er stieg, lustig vor sich hinlachend, die Stufen zum Saal wieder hinab. Ich hatte lebhafte und aufrichtige Teilnahme für ihn empfunden, jetzt war er mir widerwärtig, nicht etwa aus Eifersucht, o nein! Er hatte sich vorher im Zaum gehalten und mir die Achtung nicht verwehrt, auf die ich bei ihm Anspruch machen durfte. Seit seiner Ankunft in Dresden aber ließ er sich gehn, und ich sah nach und nach ein, daß noch ein gut Teil des früheren Landstreichers in ihm steckte. Das beste war, ihm ferner aus dem Weg zu bleiben. Daß Martha so schnell und leicht auf seine Absichten eingehn werde, hielt ich, wenn auch nicht für ganz unmöglich, so doch wenigstens nicht für wahrscheinlich. Es wiesen ja alle ihre Eigenschaften darauf hin, daß sie seine Unfertigkeit und innere Hohlheit schnell durchschauen werde.

Leider war diese Voraussetzung irrig. Ich hatte noch nicht erfahren, daß eine Herzensenttäuschung das Weib zum unglücklichsten Entschluß zu führen vermag.

Sie war, und darüber konnte es gar keinen Zweifel geben, unter allen anwesenden Frauen und Mädchen die schönste. Die Einfachheit ihrer Kleidung brachte, anstatt ihr zu schaden, dies erst recht zur Geltung, und ich gestehe gern, daß mein Blick immer von neuem zu ihr hingezogen wurde.

Als der Zug sich wieder aufgelöst hatte, stieg auch ich in den Saal hinab. Der Amerikaner hatte sich für kurze Zeit von Martha entfernt; dies benutzte ich, zu ihr zu gehn und sie um die Tanzkarte zu bitten. Sie reichte sie mir in sichtbarer Verlegenheit hin; die Ursache erkannte ich, als ich sah, daß sämtliche Tänze schon vergeben waren. Hinter jeder Nummer stand der Name des Ölprinzen. Eben als ich ihr die Karte wieder reichte, kam Werner zurück und klopfte lachend auf meine Schulter:

»Alles vergriffen, nicht wahr! Ich habe es Ihnen ja gesagt, daß Sie nicht an sie kommen. Sie wollte zwar einen oder einige Tänze offenlassen; für wen, das konnte ich mir denken. Darum überzeugte ich sie, daß ein Grislybär sich schlecht zum Tanzen eignet.«

Am liebsten hätte ich ihm eine Ohrfeige gegeben, die jedenfalls wohlverdient gewesen wäre; ich übersah aber seine Ungezogenheit und wendete mich mit ruhigen Worten an sie:

»Ich hätte freilich gern um einen Walzer gebeten. Ist das nicht noch zu ermöglichen, Fräulein Vogel?«

»Wenn Herr Werner es erlaubt«, hauchte sie. »Wenden Sie sich an ihn!«

»Nein, ich erlaube es nicht«, erklärte er. »Wer den Vorrang haben will, muß eher kommen. Es fällt mir nicht ein, auf mein Recht Verzicht zu leisten!«

Ich musterte ihn kalt und scharf von oben bis unten und erwiderte:

»Dann Verzeihung, Herr Werner! Ich wußte nicht, daß Sie so bedeutende Rechte auf diese Dame besitzen.

Dennoch kann Ihnen die Ermahnung wohl keinen Schaden bringen, daß sich für einen Gast und Fremden, der Sie doch sind, wohl etwas mehr Rücksicht schicken würde!«

Ich ging, und zwar aus dem Saal in ein Nebenzimmer, wo ich Unterhaltung bei Bekannten fand. Nur ganz zufällig bemerkte ich dann, daß der Amerikaner Martha zur Tafel führte und sich lustig mit ihr unterhielt. Später machte mir mein Hauswirt den Vorschlag, eine Partie Karambolage mit ihm zu spielen, und so verfügte ich mich mit ihm nach dem Billardzimmer. Wir hatten eben das zweite Spiel begonnen, als ich Martha suchend unter der Tür erscheinen sah. Sie erkannte, daß wir beide allein in dem Raum waren, kam auf mich zu und sagte, indem ihre Wangen sich dunkel röteten:

»Es gibt Damenwahl, einen Walzer. Darf ich bitten?«

Was sollte ich tun? Eine niedrige Rache lag mir fern, und doch entfuhr es mir, ohne alle Absicht, sie zu kränken:

»Sie sehn, daß ich nicht von hier fort kann, Fräulein. Ich muß also danken, zumal ich annehmen darf, daß Sie ohne Erlaubnis des Herrn Werner gekommen sind.«

Mein Spielgegner hatte, als sie zu mir sprach, erstaunt aufgehorcht. Er war seinen Arbeitern ein gütiger und wohltätiger Herr, hielt aber dabei sehr auf Abstand. Kaum hatte ich ausgesprochen, so fiel er ein:

»Recht so, lieber Freund! Und Sie, Martha, mögen sich merken, daß es selbst bei der Tanzmusik nicht geraten ist, über seinen Stand hinauszulangen. Zuletzt kommt es so weit, daß sogar ich selbst von meinen Arbeiterinnen zum Tanz eingeladen werde!«

Sie war sehr bleich geworden. Ihre Augen hingen eine kleine Weile starr an seinem Mund, an seinem jetzt so strengen Gesicht; dann drehte sie sich um und ging hinaus.

»War das nicht ein wenig zu hart?« fragte ich ihn.

»Tut sie Ihnen vielleicht leid?«

»Allerdings.«

»Mir gar nicht. Solche Überschreitungen der gesellschaftlichen Trennungslinie müssen entschieden zurückgewiesen werden. Es mag möglich sein, daß ich da vielleicht etwas zu streng urteile. Wenn man aber in diesen Anschauungen erzogen ist, fällt es schwer, sich davon frei zu machen. Diese Martha ist ein sehr braves Mädchen, aber von meiner Frau doch schon verzogen worden. Sie hat ihre Vermahnung weg. Denken Sie nicht mehr an diesen Zwischenfall, und spielen wir weiter!«

Wir spielten, da ich keine Lust zu etwas anderm hatte, noch einige Partien und spazierten dann in den Saal zurück. Vergebens schaute ich mich um: ich bemerkte Martha und den Amerikaner nicht mehr. Später traf ich auf den Oberdrucker, der mich besorgt fragte:

»Können Sie vielleicht sagen, was mit Fräulein Martha geschehn ist? Sie kam vor einiger Zeit verstört zu uns und sagte, daß sie sofort nach Haus müsse.«

»Gab sie nicht einen Grund an?«

»Ja doch, aber keinen vernünftigen.«

»Welchen?«

»Sie sei eine Arbeiterin und passe nicht hierher unter die feinen Herrschaften.«

»So muß jemand sie beleidigt, ihr irgendeine dem ähnliche Bemerkung gemacht haben?«

»Sehr wahrscheinlich. Ich fragte sie darnach, doch antwortete sie nicht.«

»Ist sie fort?«

»Ja.«

»Allein?«

»Mit dem Amerikaner.«

»Was? Herrenbegleitung? Sie mußten Ihre Frau mit ihr gehn lassen!«

»Das wollte ich auch, aber sie wies mich so barsch ab, daß ich still sein mußte. Sie sagte, Herr Werner sei zwar nur als Gast, als Fremder hier, es werde aber ihrer Ehre dennoch ganz und gar nichts schaden, wenn sie sich ihm anvertraue; auch greife sie damit keineswegs über ihren Stand hinaus, denn Herr Werner sei im Armenhaus geboren und brauche auf keine große Buchdruckerei stolz zu sein. Was sie damit hat sagen wollen, ist mir ein Rätsel!«

»Um so weniger werden Sie es rätselhaft finden, wenn ich meine Worte von heute morgen wiederhole, daß Sie mit Ihrer Dienstwilligkeit für den Amerikaner einen gewaltigen Pudel geschossen haben. Sie werden die Folgen davon wohl kaum verantworten können.«

»Folgen? Welche Folgen sollte es haben?«

»Martha wird uns mit dem Amerikaner davonlaufen!«

»Davonlaufen?« wiederholte er, mich erschrocken ansehend.

»Das ist unmöglich!«

»Sogar sehr wahrscheinlich!«

»Lieber würde ich es glauben, wenn man mir sagte, daß – – daß – – –«

»Daß – – – nun, weiter!«

»Daß sie mit Ihnen – – –«

»Was mit mir?«

»Sie werden es mir übelnehmen?«

»Nein. Ich bin nicht in der Stimmung, etwas übelzunehmen. Also heraus damit!«

»Daß sie mit Ihnen über alle Berge und Meere gehn werde.«

»Unsinn!«

»Ja, ja, es ist so! Ich weiß, daß sie mit ganzem Herzen an Ihnen hängt.«

»Täuschung!«

»Nein, nein! Wenn Sie wüßten, wie oft und gern sie von Ihnen gesprochen hat. Grad in die Zusammenkunft mit dem Amerikaner hat sie nur darum eingewilligt, weil er sagte, daß er Sie kennt und sehr viel von Ihnen erzählen kann.«

»Aber sie ist nicht in das Kaffeehaus gekommen, sondern mit ihm zum Ball gegangen.«

»Weil ich die Einladung dazu nachträglich erhielt, weil sie von der Frau unseres Alten aufgefordert wurde mitzukommen, und endlich, weil wir überzeugt waren, daß auch Sie dasein würden.«

»Mag sein. Sie wird dennoch mit Werner nach Amerika gehn; passen Sie auf! Ich wette, daß sie schon morgen vormittag an ihrer Maschine fehlen wird.«

Mit dieser Vermutung hatte ich recht, denn als ich den Geschäftsinhaber am nächsten Tag zufällig traf, sagte er mir:

»Martha scheint mir die gestrige Zurechtweisung übelgenommen zu haben, denn sie hat mir sagen lassen, daß sie krank sei und für einige Tage nicht kommen könne.«

Als ich zwei Tage später Veranlassung hatte, einmal in die Buchdruckerei zu gehn, war sie noch immer nicht wieder da. Der Oberdrucker lauerte mich ab und sagte mir, so daß niemand es hörte:

»Herr May, Sie scheinen doch mit Fräulein Martha und dem Amerikaner recht zu haben.«

»Wieso?«

»Es spinnt sich etwas zusammen, denn sie sind auf vier Tage miteinander in die Sächsische Schweiz gereist.«

Diese Nachricht überraschte mich doch, aber nicht so, wie es der Fall gewesen wäre, wenn ich Eifersucht empfunden hätte. Es blieb alles ruhig in mir. Und die Erkenntnis befestigte sich in mir, daß Martha nicht die Blume sei, die bestimmt war, auf meinem Weg zu blühen. Zwar gönnte ich sie dem Ölprinzen nicht, denn ich hielt ihn nach wie vor nicht für den Mann, ein Mädchen wie Martha glücklich zu machen, aber ich konnte doch auch ohne Ärger an ihn und die letzten Tage zurückdenken. –

Ja, es spann sich etwas zusammen. Nach vierzehn Tagen erhielt ich von Werner folgenden Brief:

»Verehrter Herr!

Ich mache Ihnen die Freude, Ihnen mitzuteilen, daß mein Herzenswunsch sich erfüllt hat. Wenn Sie nächsten Sonntag kommen wollen, können Sie unsrer Vermählung beiwohnen. Die armselige und ausgehungerte Strumpfwirkersbande ist ganz glücklich, einen so schwerreichen Schwiegersohn zu kriegen, und wird voller Wonne mit uns nach Amerika gehn. Ich nehme natürlich die ganze Familie mit. Die Bude, in der sie wohnen, schenken wir einfach der Feuerwehr zum Niederbrennen; sie ist nichts mehr wert.

Sollten Sie wieder einmal eine Martha finden, so fangen Sie es klüger an! Ist mir doch erzählt worden, daß Sie in meine Braut verliebt bis über die Ohren gewesen sind.

Ergebenst Konrad Werner, Ölprinz.«

Mit diesen Zeilen hatte er sein Inneres sehr scharf wiedergegeben. »Ich mache Ihnen die Freude« war natürlich höhnisch gemeint. Daß er von Marthas Eltern so mißachtend sprach und ihr liebes Häuschen eine »Bude« nannte, die er wegbrennen lassen wollte, ließ auf keinen zartfühlenden Charakter schließen. Und daß er mir den Rat erteilte, es später klüger anzufangen, konnte mich aus seinem Mund weder ärgern noch beleidigen.

Wieder verging eine Zeit, wohl ein Vierteljahr. Ich arbeitete fleißig an einem längeren Manuskript und kam wenig fort. Dann besuchte ich wieder einmal eins der Konzerte meines Freundes, des Kapellmeisters. Franz Vogel, mein Schützling, spielte die erste Geige. Während der Pause kam sein Lehrmeister zu mir und fragte:

»Was sagen Sie zum ersten Geiger? Hat er sich nicht vortrefflich gemacht?«

»Ausgezeichnet! Er hat eine Zukunft vor sich.«

»Ja. Aber dennoch gestehe ich, daß ich mich über seinen Charakter, seine Ehrlichkeit noch mehr freue als über die Fortschritte, die er gemacht hat.«

»Ehrlich? Wieso? Ist es ein Vorzug, wenn ein Mensch ehrlich ist? Ich halte das für keine große Tugend, sondern einfach für seine Pflicht.«

»In diesem Fall ist es ein Vorzug. Er hätte mir ebenso mit Undank lohnen können wie seine Schwester. Sie wissen doch, daß sie geheiratet hat?«

»Ja.«

»Jenen öligen und doch so luftigen Amerikaner, der nur immer die Worte Ölprinz und Millionär im Mund führte?«

»Er hat es mir kurz vor der Hochzeit geschrieben.«

»Haben Sie später wieder darüber gehört?«

»Nein.«

»Sie sind fort, Eltern und Geschwister mit. Nur Franz ist dageblieben.«

»Das ist ihm allerdings hoch anzurechnen!«

»Ja, zumal ihm alle gute Worte gegeben haben und sein windiger Schwager ihm goldne Berge versprochen hat. Er verharrte aber fest dabei, daß er unmöglich fort könne, weil er mir sein Wort gegeben habe, bei mir zu bleiben.«

»Sein Vater hatte doch den Vertrag, in dem von einem Strafgeld die Rede war, unterschrieben?«

»Das wollte der Amerikaner bezahlen. Der scheint überhaupt keinen guten Eindruck auf meinen Schüler gemacht zu haben, denn dieser hat ihm zwar versprochen, seinerzeit, wenn er nicht mehr an mich gebunden ist, hinüberzukommen, redet aber nie ein Wort von ihm.«

»Es wundert mich überhaupt, daß die alten Leute, die so sehr an ihrer Heimat hingen, daß sie ihren Sohn nicht einmal nach Dresden lassen wollten, mit über den Ozean gegangen sind.«

»Was wollen Sie! Geld tut alles; sie haben von dem berühmten Millionär gehört, und das hat ihnen natürlich die Köpfe verdreht.«

»Was die Millionen betrifft, so habe ich gar kein rechtes Vertrauen zu ihnen oder vielmehr zu ihrem Besitzer. Er hat in den letzten Tagen nicht den Eindruck auf mich gemacht, als ob seine Hand sie festhalten könne.«

»Er mag sie immer vertun; es fließen ja neue aus seinem Ölsumpf nach.«

»Oh, man kennt Quellen, die sehr reichlich flossen und aber dann gar bald keinen Tropfen mehr gaben. Ist nicht auch der Entdecker der reichsten Goldmine später im Armenhaus gestorben?«

Das Gespräch mußte unterbrochen werden, weil die Pause vorüber war.

Das war für lange Zeit zum letztenmal, daß ich von dem Ölprinz, von Martha und Franz Vogel sprach und hörte, die mich lange und so lebhaft beschäftigt hatten, und die beinahe bestimmend in meinen Lebensweg eingegriffen hätten. Wie so ganz anders hätte sich mein späteres Dasein wohl entwickelt, wenn ich, wie ich zuerst fast versucht gewesen war, dem Ölprinzen in seinem Kampf um Martha die Stirn geboten hätte und als Mitbewerber um ihre Hand aufgetreten wäre! Ob aber auch zu meinem Glück? Es gab einen Augenblick, da ich die Arme nach diesem reinen Wesen ausstreckte, und da ich diese Frage mit einem überzeugten Ja beantwortet hätte. Heute bin ich aber andrer Meinung. Das Glück des Menschen liegt nicht immer, ja nicht einmal oft in der Erfüllung seines Herzenswunsches. Und für meine Person, der ich an eine göttliche Führung glaube, bin ich der Überzeugung, daß es so hat kommen müssen. Es war gut so! Auch für Martha! Ich ahnte nicht, daß mein Weg noch einmal den ihrigen kreuzen werde, und daß ich ein zweites Mal bestimmt sei, eine nicht unbedeutende Rolle im Leben der beiden Geschwister zu spielen. Aber als ich Martha nach Jahren im fernen Westen und in ganz andern Verhältnissen wiedersah, in Verhältnissen, die der Gattin eines Millionärs als drückend erscheinen mußten, da staunte ich über sie. Sie hatte sich entwickelt. Nicht etwa nur körperlich, sondern vor allem seelisch. Sie hatte eine Schule besucht, die über ihr ganzes Wesen einen unbeschreiblichen Zauber ausbreitete, der ihr in diesem Maß früher nicht eigen gewesen war und ihre Schönheit nur noch mehr erhöhte, und diese Schule war – – das Leid.

Sollten die Geschwister Vogel die Teilnahme des Lesers erworben haben, so daß er den Wunsch hat, mehr über ihre späteren Lebensschicksale zu erfahren, so möge er mein Werk »Satan und Ischariot« zur Hand nehmen. Dort wird er die Beantwortung der Fragen finden, die ihm im Anschluß an die vorliegende kleine Erzählung auftauchen mögen.

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